Heimstrasse 52
lebt, das kaum rausgeht.
Der Sohn der Spanier heißt Rafa, zumindest ist es das, was Gül versteht. Er mag vielleicht acht Jahre alt sein, und wenn er aus der Schule kommt, ist er allein zu Hause, weil seine Eltern beide arbeiten. Gül sieht vom Küchenfenster aus, wie er mit seinem Ranzen auf dem Rücken heimkommt. Dann dauert es nicht mehr lange, bis er wieder vor der Haustür steht und hochguckt. Gül und er spielen jeden Tag Beştaş, ein Spiel mit fünf Kieselsteinen, das Gül ihm beigebracht hat. Sie sitzen dabei auf der Stufe vor dem Hauseingang, und Rafa bringt ihr deutsche Worte bei. Die Worte für Stock und Stein, für Arm und Bein, Kopf und Bauch, für Stift und Papier und noch einige mehr. Nach etwa fünf Tagen begreift Gül, dass Rafa seine gesamten Kenntnisse an sie weitergegeben hat. Wenn sie auf ein Motorrad zeigt, auf die Klingelschilder oder auf die Schnürsenkel, zuckt der Junge nur mit den Schultern.
Einige Wochen lang sitzen sie nachmittags gemeinsam vor der Haustür, ein Schuljunge und eine Frau Anfang zwanzig, Mutter zweier Töchter, spielen Beştaş, mal redet Gül auf Türkisch auf ihn ein, mal spricht Rafa Spanisch mit ihr. Gül genießt diese ein, zwei Stunden, bevor sie reingeht, um Fuat das Frühstück zu bereiten.
An den Wochenenden geht Fuat oft zur gleichen Zeit aus dem Haus, zu der er zur Arbeit geht. Was soll ich denn tun, sagt er, ich kann ja eh nicht schlafen.
Und er kommt auch etwa zur gleichen Zeit nach Hause, zu der seine Schicht zu Ende wäre. Manchmal so betrunken, dass er sich in Kleidern aufs Bett wirft und sofort so etwas wie |11| Schlaf zu finden scheint. Doch meistens ist er so betrunken, dass er Gül aus der Küche ins Schlafzimmer zieht oder ihr das Nachthemd hochschiebt, sollte sie noch im Bett liegen. Nur nüchtern kommt er nie.
Wenn er schläft, sitzt Gül in der Küche, kein Buch, kein Radio, keine Zeitung, die Tage wissen nicht, wie sie vergehen sollen. An den Wochenenden steht nicht mal Rafa vor der Haustür und schaut hoch zu ihrem Küchenfenster.
Doch an den Samstagen und Sonntagen gehen Fuat und Gül auch aus, treffen sich mit Landsleuten. In ihrer Straße wohnen keine Türken, aber insgesamt sind sie gut fünfzig in diesem Ort. Häufig sind es junge Männer wie Fuat, einige ledig, andere haben Frau und Kinder in der Türkei gelassen.
Ozan wohnt mit seiner Frau Nadiye und ihrem Sohn Ergün in der Nähe, und sowohl Fuat als auch Gül besuchen sie gerne. Fuat, weil Ozan ebenfalls gerne mal einen hebt, wie sich die beiden ausdrücken, und weil sie außerdem der Hang zum Glücksspiel und die Gier nach schnellem Geld verbindet. Gül, weil Nadiye wie eine bodenständige Frau wirkt, die genau weiß, was sie will, obwohl sie noch jünger ist als Gül. Manchmal erscheint sie Gül auch mitleidslos, wenn sie zum Beispiel über den ersten Sohn ihrer älteren Schwester spricht.
– Der war fast schon zwei Jahre alt, sagt sie, er hat zwar oft gekränkelt, aber sie haben gedacht, er kommt durch. Doch dann hat er einen Durchfall bekommen, der ihn innerhalb einer Woche ins Grab gebracht hat. Vielleicht war es besser so. Der Herr möge niemanden diesen Schmerz erfahren lassen, aber das Kind war einfach nicht hart genug für dieses Leben. Der hätte es nicht weit gebracht. Man wird nicht ständig mit Rosenwasser eingerieben auf dieser Welt.
Vielleicht sind die Menschen aus dieser Gegend ja so, sagt Gül sich, Nadiye und Ozan kommen aus der Schwarzmeerregion, und anfangs findet Gül es nicht immer einfach, ihren Dialekt zu verstehen.
|12| – Ich habe die Türkei beim Militär kennengelernt, sagt Fuat, die Kurden, die Tscherkessen, die Aleviten, die Georgier, die aus den Gebirgen, die blonden Kerle von der Ägäis, die feinen Istanbuler, die Männer von der Schwarzmeerküste mit den großen Nasen, all die Menschen unseres Landes. Und du lernst sie hier in Deutschland kennen, das hier ist deine Militärzeit, sagt er lachend.
Keiner kann ahnen, dass diese Zeit noch über fünfzehn Jahre dauern wird.
Nadiyes Sohn ist kein Jahr alt, doch sie ist bereits erneut hochschwanger. Gül fragt sich, was aus diesen Kindern wohl mal werden wird.
Es ist ihr zweiter Monat in Deutschland, da bleibt Güls Regel aus. Die ersten Tage bangt und hofft sie noch, doch eines Morgens kommt Fuat nach Hause und findet Gül weinend in der Küche.
– Was ist passiert?
– Ich glaube, ich bin wieder schwanger.
Fuat sieht sie nur an. Gül kann nicht sagen, ob da Hoffnung auf einen Sohn in seinen
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