Heimstrasse 52
Eier, die aus diesem Fleisch entfernt werden und die Federn, die durch die Luft segeln. In ihrem Traum füllen sich die Meere mit nackten, toten Hühnern und drohen das Festland zu überschwemmen.
In der zweiten Nacht hat sie einen viel schrecklicheren Traum.
Ceren war in einem Schlamassel, und Gül musste sie retten, irgendwo herausholen, befreien, sie musste für ihre Tochter da sein, sie musste die Hand ausstrecken und helfen, aber |18| Ceren entschwand immer wieder, jeder Versuch war vergeblich. Gül strampelte und mühte sich, sie plackte und plagte sich, doch Ceren entschwand ihr in einem Strudel aus Not und Angst, Gül bekam sie einfach nicht zu fassen.
Als Gül aufwacht, ist es halb fünf morgens, noch mehr als eine Stunde, bis Fuat von der Arbeit kommt. Sie steht auf, die Bilder sind blass, doch das Gefühl aus dem Traum ist mit so starken Farben gemalt, dass Güls Hände zittern, als sie sich mit einem Stift an den Küchentisch setzt. Sie schreibt einen Brief an ihre Schwiegermutter: Was ist mit Ceren? Ist meine Tochter gesund? Ist irgendetwas mit ihr geschehen? Schreib, schreib schnell. Lasst mich nicht ohne Nachricht.
Sie macht Frühstück für sich und Fuat, doch der Traum hat eine Glocke aus Unbehagen über sie gestülpt, wohin sie auch geht, wie sie sich auch wendet in der Küche, irgendetwas trennt sie von der Welt, ist hinter ihr, über ihr, in ihr, und selbst wenn sie nicht daran denkt, spürt sie, dass es da ist.
Sie klebt eine Briefmarke auf den Umschlag, eine von den vielen, die Fuat gekauft hat, zusammen mit Papier und Kuverts. Was hast du denn vor, hat er gefragt, jeden Tag einen Brief schreiben? Was willst du mit zwanzig Marken auf einmal?
– Ja, hat sie geantwortet, ja, jeden Tag oder jeden zweiten, vielleicht jeden dritten, aber ich möchte schreiben, das ist unsere einzige Möglichkeit, einander nah zu sein.
Auf dem Weg zur Arbeit wirft Gül den Brief in den Kasten, und die Glocke um sie herum wird ein klein wenig durchlässiger, es kommt etwas Luft an das Unbehagen, und es formen sich ein, zwei klare Gedanken, doch dann steht sie wieder am Band und rupft Hühner, in ihrem Kopf Fetzen von Bildern der letzten Nacht, auf ihrem Gemüt noch das Gewicht dieses Traumes.
Man sagt, leicht wie eine Feder, sinniert sie, während sie die Daunen herausreißt, leicht wie eine Feder, diese Redensart |19| muss entstanden sein, lange bevor es Hühnchenschlachtereien gab.
Kurz vor der Mittagspause kommt der Mann hereingestürmt, der Gül vor zwei Tagen gezeigt hat, was sie zu tun hat, Herr Mehl, ein hagerer Mann mit Brille, dessen Oberkörper leicht nach vorne zu kippen scheint und dessen Falten am Hals Gül an einen Truthahn erinnern. Ihm folgen zwei Frauen und einer der Männer, die den Hühnern den Kopf abreißen.
– Schnell, schnell, schnell, Kontrolle, sagt Herr Mehl und zerrt Gül mit sich.
Sie begreift, worum es geht.
In Istanbul hat Gül gesehen, wie Straßenverkäufer mit großen Blechen voller Sesamkringel vor der Polizei flüchteten. Die Händler hatten ihr leidgetan, sie verdienten sich ihr Geld ja im Schweiße ihres Angesichts, doch wenn die Polizisten sie erwischten, landeten die Kringel zertreten im Dreck.
Herr Mehl läuft mit den vieren in den Kühlraum, dort muss Gül sich in eine Box legen, in die sie nur hineinpasst, wenn sie die Knie bis ans Kinn zieht. Sie ist so zusammengekauert, dass sie gar nicht sehen kann, wie viele Hände das sind, die jetzt nackte Hühner auf sie legen.
Wenn jemand in die Kiste schaut, dann wird er mich doch sehen, ob mit oder ohne Hühner darüber, denkt Gül, als sie drinnen liegt und das Gewicht des Fleisches spürt. Und: Die Sesamkringelverkäufer waren wenigstens an der frischen Luft. Und: Jetzt hatte ich tatsächlich kurz den Traum vergessen.
Zwei Stunden hätte sie sagen können, zwei Stunden lag ich in dieser Kiste im Kühlhaus, vor Kälte ist das Mark in meinen Knochen schon gefroren, in meinen Fingern war kein Gefühl mehr und in meinen Zehen auch nicht. Zwei Stunden lag ich da mit diesen kalten toten Hühnern auf mir. Das ist nicht, wie |20| in einem Haus zu sein, in dem die Kohlen ausgegangen sind, diese Kälte und dann noch die Angst. Woher soll ich wissen, was passiert, wenn sie mich finden? Ob sie mich mit zur Polizei nehmen, ob sie mich in einen Zug stecken und nach Hause schicken. Ich kann die Sprache nicht, kann nicht mal links von rechts unterscheiden auf Deutsch, was hätte ich gemacht, zitternd auf einer Polizeiwache,
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