Heimstrasse 52
Augen ist, Freude oder gar Enttäuschung.
– Ich bin doch zum Arbeiten gekommen, sagt sie, was sollen wir denn mit noch einem Kind. Soll ich es irgendwo bei Fremden lassen wie die beiden Mädchen? Soll auch dieses bloß aufwachsen, ohne Mutter, ohne Vater?
– Bist du dir sicher?, fragt Fuat.
– Nein, sagt Gül, wohl wissend, dass sich ihre Regel schon mal verschiebt und ihr Mann fast immer aufgepasst hat, egal, wie betrunken er war.
– Dann fragen wir einen Arzt.
Zu einem Arzt muss auch Nadiye, weil es sich nur noch um Tage handeln kann, bis das Baby kommt. Dieser erklärt ihr und ihrem Mann, indem er mit einem Kuli auf ein Blatt Papier zeichnet, dass das Kind sich nicht gedreht hat und dass sie |13| einen Kaiserschnitt vornehmen werden. Nadiye wird einige Tage im Krankenhaus verbringen müssen.
Der Arzt, bei dem sich Gül untersuchen lässt, nimmt keine Zeichnung zu Hilfe. Gül ist eingeschüchtert von diesem grauhaarigen alten Mann, der ein wenig tattrig wirkt und immer wieder in seiner Brusttasche nach seiner Brille sucht, die er sich auf die Stirn geschoben hat. Sie versteht kein Wort von dem, was er sagt.
Als sie das Sprechzimmer verlassen haben, fragt sie Fuat: – Ja oder nein?
– Du hast doch gehört, was er gesagt hat.
– Woher soll ich das denn verstehen?
– Er hat Baby gesagt, oder? Das Wort hast du doch schon mal gehört? Was gibt es denn da nicht zu verstehen?
Gül hält die Tränen zurück, bis sie zu Hause sind, und dann noch etwas länger, bis Fuat zur Arbeit geht.
– Was soll ich nur mit dem Kleinen machen, sagt Nadiye, den kann ich ja nicht mit ins Krankenhaus nehmen. Ob sie Ozan wohl freigeben von der Arbeit? Aber was soll dann der arme Mann den ganzen Tag mit dem Kind? Ach, Gül, wenn du nicht deine Leute hast, die dir den Rücken stärken, dann ist das Leben noch härter.
– Ich kann Ergün nehmen, sagt Gül, und an Nadiyes Augen kann sie erkennen, dass diese nicht mit dem Angebot gerechnet hat. Oder gar darauf spekuliert. Gül würde sie für diesen überraschten Blick am liebsten umarmen. Ein Mensch, dessen Herz rein ist.
– Du bist verrückt, sagt Nadiye nur, was willst du dir ein Kind aufbürden in diesen Tagen?
Gül hat nichts von ihrer Schwangerschaft erzählt. Spürt Nadiye, dass etwas nicht stimmt, hat sie deswegen
in diesen Tagen
gesagt?
– Doch, doch, sagt Gül, gib mir Ergün nur, du weißt, ich |14| habe auch zwei Kinder, du kannst den Kleinen doch nicht bei deinem Mann lassen, der ist zum Arbeiten hier. Das würde dem nicht gefallen, das weißt du auch.
– Was soll das denn? Was sollen wir mit so einem Säugling?, zetert Fuat. Du weißt, dass ich schlafen muss. Als würde es nicht reichen, dass ich nachts arbeite und du dauernd Lärm machst, muss da auch noch ein Kind her, oder was? Kaum fassbar, was dir so einfällt.
Gül sitzt still auf ihrem Hocker in der Küche oder spielt mit Rafa, wenn Fuat schläft. Sie kann nichts dafür, dass ihr Mann aufwacht, wenn man draußen ein Flugzeug hört. Selbst wenn sie sich eine Zigarette anzündet, versucht sie leise zu sein.
– Wir werden dich nicht stören, sagt sie nun, du wirst nichts von dem Kleinen mitkriegen, wir werden die ganze Zeit in der Küche sein, und du wirst keinen Mucks hören.
Es ist der Sohn deines feinen Freundes, könnte sie noch sagen, was tust du so, als ginge dich das nichts an? Es ist unsere Pflicht als Mensch, nach diesem Kind zu sehen. Könnte sie sagen, doch dann würde er sich noch mehr aufregen.
– Keinen Mucks, ja?, sagt Fuat. Das ist ein Kind, da weiß man nicht, wann es schreit und wann nicht, willst du mich verschaukeln? Keinen Mucks.
Er steckt sich eine Zigarette an und zieht wütend den Rauch ein.
Irgendwie war das wirklich eine Idee, für die man mir in den Kopf spucken müsste, denkt Gül. Den ganzen Tag warte ich in der Küche nur darauf, dass mein Mann aufwacht, wir haben überhaupt keinen Platz, meine eigenen Kindern sind weit weg, ich bin schon wieder schwanger, und da fällt mir ein, dass ich mich noch um ein fremdes Kind kümmern muss. Aber was sollte ich auch sonst tun?
Gül hat Glück. Ergün ist tagsüber tatsächlich still. Jeden |15| Morgen, nachdem Fuat zu Bett gegangen ist und sie den Abwasch erledigt hat, trägt sie den Kleinen auf dem Arm zu seiner Mutter. Das Krankenhaus liegt etwa zehn Minuten entfernt, und Gül hat zwar immer noch Angst, sich zu verlaufen, wenn sie alleine hinausgeht, aber zu Nadiye muss sie nur zweimal abbiegen.
Tagsüber ist
Weitere Kostenlose Bücher