Heinrich Mueller 05 - Mordswein
Dienstag, 13.7.2010
Natürlich war es ihm nicht gelungen. Warum hätte es ihm auch gelingen sollen, nach all den Misserfolgen der vergangenen Jahre? Aber deswegen musste man ihn doch nicht derart bedrängen.
Er blickte sich verängstigt um, dann beschleunigte er nochmals seinen Schritt, ohne ins Stolpern zu geraten. Entsprang es nur seiner Einbildung, oder hatte sein Verfolger die Geschwindigkeit ebenfalls erhöht?
Das Dorf Twann hatten sie hinter sich gelassen. Er hätte den Kirchturm bewundert, die geschlossene Häuserzeile entlang der schmalen Straße, den weiten Blick über den Bielersee hinweg bis auf die im Föhnsturm vermeintlich näher gerückten Alpen. Hätte, wäre, wenn …
Seit er aus dem Zug gestiegen war, der ihn von Biel hierher gebracht hatte, war er sicher, verfolgt zu werden, spürte er die Präsenz eines Unbekannten, hörte regelmäßige Schritte, ein unangenehmes Räuspern. Er drehte sich nicht um, wollte zuerst eine geschützte Stelle erreichen, bevor er seinem Widersacher in die Augen blickte. Stetig hatte er sein Tempo erhöht, seit der Unterführung von der Schiffländte an, am ›Bären‹ vorbei, durch die Dorfgasse bis zum Weingut Johanniterkeller und weiter den Chrosweg hinauf.
So schnell er seine massige Gestalt in Bewegung setzen konnte, war er gegangen. Aber der andere war ihm im selben Rhythmus auf den Fersen geblieben. Nun stieg der Pfad an, und er geriet ins Keuchen, seine kräftigen Atemzüge ließen den mittleren Knopf aus dem lindgrünen Hemd springen, und endlich riss er die Krawatte, rot-grün diagonal gestreift, vom Hals. Sein grauer Anzug war schweißgetränkt, seine weiß-grauen Stoppelhaare und sein breiter Schnauz brannten.
Er hatte keinen Blick für die Reben, die in hellem Grün leuchteten, auch wenn sie unter der fortgeschrittenen Trockenheit zu leiden hatten. Die Blätter raschelten in der warmen Luft, die von Süden über die Alpen hinunter kam und den Boden noch mehr aufheizte, was die Winzer in schlechteren Jahren herbeisehnten. Aber heuer war es zu viel des Guten. Die ausgedörrten Böden seufzten. Als er links ein raschelndes Geräusch vernahm, dachte er zuerst an eine Giftschlange und rettete sich mit einem Sprung nach rechts. Eine unsinnige Aktion, denn bei dem Lärm, den er mit seinem keuchenden Schnaufen und den schweren Tritten erzeugte, wäre jedes Kriechtier längst geflüchtet.
Jetzt hörte er wieder die tappenden Schritte, die ein Echo seiner eigenen waren. Ein Echo?, überlegte er kurz und lachte auf. Das wäre der Gipfel, wenn er sich vom Widerhall seiner eigenen Schritte ins Bockshorn jagen ließe. Er verharrte plötzlich im Stillstand.
Es erklangen noch zwei, drei leichte Tritte, bevor auch diese verstummten.
Da bekam er es endgültig mit der Angst zu tun. Er begann zu rennen, so schnell es sein Körpergewicht erlaubte. Das Herz pochte bis ins Gehirn und brachte ihn um den klaren Verstand. Als er den parallel zum See verlaufenden Rebweg gekreuzt hatte, wurde der Chrosweg deutlich steiler. Er führte zur neuen Siedlung, die im Rohbau wie ein Kaninchenstall aussah, der von den neuen Gefangenen erst noch ein wenig dekoriert werden musste.
Er lief am ›Haus in der Chros‹ vorbei, Haus des Rebmannes der Chrosreben, Herr über die Trauben, wo es heute keinen einzigen Rebstock mehr zu sehen gab. Er erinnerte sich noch daran, wie er früher einmal das Schild an der Hauswand gelesen hatte. ›Im Taufrodel von Twann erstmals 1574 genannt als Heim der Hubler in der Chros. Seither ist das Haus im Besitz derselben Familie.‹ Seltsam, womit das Gehirn sich beschäftigte, wenn man auf der Flucht war.
Aber handelte es sich um eine Flucht? Er gehörte hierher, war im Dorf aufgewachsen, fühlte sich als Teil der Gemeinschaft. Und doch hastete er nun durch den Wald, an einer Baumhütte vorbei, über die Straße, wo ihm einer der neuen Hausbesitzer kopfschüttelnd zusah. Würde der doch seinen Widersacher aufhalten, dann wäre alles gut!
Er querte die Gaichtstraße und folgte dem Waldsaum auf einem Wanderweg, bis er die Hochebene erreichte und vorbei an zwei Bauernhäusern geradeaus weiterjagte, auf den höher gelegenen Wald zu. Nun hatte er ein Ziel. Es war ihm nur nicht bewusst geworden.
Vor Augen hatte er bereits die Blutbuche, die er zum letzten Mal vor bald 30 Jahren gesehen hatte. Wenn sie noch stand, musste sie den Waldrand dominieren. Er hob die Augen, sah sie erst beim zweiten Versuch, rechts von ihm, ein ganzes Stück weiter Richtung Gaicht, als
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