Heißer Engel
PROLOG
E ine Windböe strich ihm über den Nacken. Fröstelnd klappte er den Mantelkragen hoch und schob die Hände in die Taschen. Nur mühsam widerstand er dem Drang, den Grabstein zu berühren. Das Grab wirkte so friedlich. Aber Dane Carter glaubte das nicht. Nicht eine Sekunde lang.
Die Beerdigung hatte er um fast vier Monate verpasst. Seine Familie war natürlich außer sich. Doch sie hatten ihm schon einige vergangene Verfehlungen nicht verziehen, also machte ein Fehler mehr oder weniger auch keinen Unterschied mehr. Ausgenommen für ihn selbst.
Sein Gesicht fühlte sich starr an. Aber das lag an seinen mit aller Kraft unterdrückten Gefühlen, nicht am Wind. Der Tod seines Zwillingsbruders war eine unabänderliche und harte Tatsache, die er akzeptieren musste. Auch wenn er und Derek in letzter Zeit nicht viel Kontakt gehabt hatten, fühlte es sich an, als würde ein großer Teil von ihm selbst fehlen.
Dane hatte vor ein paar Jahren seine Familie verlassen und sich auch aus der Firma zurückgezogen. In seiner Privatdetektei übernahm er seitdem bewusst Aufträge, für die er so oft wie möglich die Stadt verlassen und verreisen musste. Obwohl sein Büro nur eine Stunde von seiner Familie, von seiner Heimat entfernt war, war er nicht zu erreichen gewesen, als sein Bruder ihn am dringendsten gebraucht hätte …
Jeder schien Dereks Tod als einen Unfall zu akzeptieren. Der Familie war anscheinend nur daran gelegen, dass die schrecklichen Neuigkeiten nicht in die Medien gelangten. Schließlich musste eine Panik unter den Aktionären der Firma verhindert werden. Doch Dane konnte die Sache nicht auf sich beruhen lassen. Er
würde
die Sache nicht auf sich beruhen lassen. Er hatte einen Riecher für Intrigen, und hier stank etwas ganz gewaltig. Noch konnte er nicht benennen, was ihn störte, aber sein Instinkt war ihm in seinem Job als Privatdetektiv in den letzten Jahren immer zugutegekommen – seit dem Tag, als er das Familienunternehmen den fähigen Händen seines Bruders überlassen hatte.
Unvermittelt ging er in die Knie und fuhr mit den Fingerspitzen über das winterkurze Gras auf dem Grab. “Was zum Teufel ist passiert, Derek?” Er schluckte. “Jetzt bin ich wieder zurück in der alten Heimat, obwohl ich das nie gewollt habe – ich wollte die Firma nicht und, verflucht, meistens wollte ich nicht mal die Familie. Es gibt zu viele offene Fragen, Bruder. Fragen, auf die ich keine Antwort weiß.”
Der Wind wehte ihm ins Gesicht. Dane schüttelte den Kopf und starrte auf den Grabstein. “Was hat es zum Beispiel mit dieser Angel Morris auf sich? Ich habe einen Brief von ihr bekommen. Offensichtlich hat sie angenommen, dass du ihn erhalten würdest. Sie weiß nicht, dass du tot bist. Ich habe den Eindruck, sie will dort wieder anfangen, wo ihr beide aufgehört habt. Vielleicht will sie eure Beziehung wiederaufleben lassen? Ich weiß es nicht … Ich glaube, ich werde mich mit ihr treffen müssen und mir anhören, was sie zu sagen hat.”
In seinem Kopf überschlugen sich die Gedanken. Welche Konsequenzen hatte es, wenn er die Rolle seines toten Bruders spielte, wie die Familie es wollte? Welche Folgen zog es nach sich, wenn er sich dieser Frau gegenüber als Derek ausgab? Resigniert atmete er durch. Doch was blieb ihm andererseits schon übrig? Er wusste nicht, was geschehen war, wusste nicht, ob er Angel Morris vertrauen konnte. Also musste er sich nach allen Seiten hin absichern.
Bisher hatte er nur herausgefunden, dass Angel und Derek sich regelmäßig getroffen hatten. Bis Dereks Firma – die Firma seiner Familie – das Unternehmen, in dem sie angestellt gewesen war, übernommen hatte. Derek hatte vertrauliche Informationen genutzt, die er von Angel bekommen hatte, um die feindliche Übernahme zu erleichtern, und Angel war deshalb entlassen worden.
Diese Frau hatte allen Grund, Derek zu verachten, und er verdiente es, dass sie ihn hasste. Trotzdem wollte sie ihn nun wiedersehen. Nach so langer Zeit musste Dane sich fragen, ob sie eventuell davon ausgegangen war, dass Derek tot war. Und dass sie jetzt – da Dane zurückgekehrt war und Dereks Rolle übernommen hatte – das Gefühl hatte, dass es noch Unerledigtes zu klären gab. Immerhin hatte die Öffentlichkeit nichts von Dereks Tod erfahren.
Was die Außenwelt betraf, führte Derek Carter noch immer das Unternehmen. Nur wenige Auserwählte wussten von seinem Tod. Die Familie hatte es für richtig gehalten, Dane eine Weile für ihn einspringen
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