Heiter. Weiter.
St. Jacobus“ geben - das kann mich nicht aufmuntern. Und in Zunzingen soll gar eine Sammlung von Weinetiketten aus zwei Jahrhunderten gezeigt werden - das kann mich nicht aufrichten.
Vielleicht kann mich eine geöffnete Gaststätte aufheitern. Informationstafeln zwischen den Weinreben machten mich schlau und wissensdurstig. Die Theorie der Tafeln soll sich in der Praxis beweisen. Und ein wenig meinen Schmerz vergessen machen. Endlich eine geöffnete Gaststätte. Die Gäste mustern den Wanderer mit dem großen Rucksack. Ein rotgesichtiger Dicker peilt mich an mit grimmigem Blick. Irgendetwas scheint ihm an mir nicht zu passen. Und meinen Schoppen Gutedel habe ich immer noch nicht. Jetzt kommt das Rotgesicht zu mir an den Tisch gestapft. Will der mich rausschmeißen? „Ich hab’ sie reinkommen gesehen, mit dem Rucksack. Sie sind auf dem Jakobsweg. Stimmt’s? Ich war auch schon in Santiago. Aber mit dem Bus. Meine Beine wollen nicht mehr so. Ich würde mich freuen, wenn ich Ihnen einen Wein bezahlen dürfte.“
Auf der „Schtros“, wie man hier sagt, hinke ich nach Müllheim. Und endlich habe ich unter Schmerzen meine letzte Station in Deutschland erreicht: Neuenburg. Hier übernachte ich im netten Gästehaus Arnold, das kannte ich noch von meinem Jakobusweg 2004. „Da ist Ihre Wanderung also jetzt zu Ende“, analysiert Frau Arnold erfahren und ergänzt mit mitfühlendem Blick: „Weil Sie doch so schlecht laufen tun. Sie wollen sich doch net noch weiterquäle?“
Schmierereien unter dem Motto: Gräme dich nicht, creme dich
Heute werde ich einen Ruhetag einlegen. Und morgen werde ich weiterwandern. In der Apotheke habe ich mir Salbe gekauft. Jetzt schmiere ich mir sorgsam, aber sorgenvoll meinen Fuß ein. Motto: „Gräme dich nicht, creme dich.“
Es ist besser so, es macht keinen Sinn, zäh und zähnezusammenbeißend weiterzugehen. Ich wäre so nicht sehr weit gekommen. 2004 hatte ich auf dem Weg bis Neuenburg bereits zwei Ruhetage eingelegt. Dieses Mal, immerhin vier Jahre älter und teilweise auf dem kräftezehrenden Schwarzwald-Westweg unterwegs, noch keinen. Ich muss nicht nur mit meinen finanziellen Ressourcen haushalten, sondern auch mit meinen Kräften. Leistungsdruck ist Gift für Sohle und Seele.
Vor vier Jahren bin ich fit bei Arnolds an- und untergekommen. So hatte ich in diesem Jahr eine gute Adresse, an die ich meine für Frankreich benötigten Wanderkarten und Pilgerführer senden konnte. Gewicht gespart! Die bisher benutzten Karten hatte ich bereits nach Hause geschickt, die Landkarten wurden zu Postkarten.
In der gemütlichen Vesperstube der Pension hatte der Wirt damals eigenen Wein ausgeschenkt. Beim Frühstück schenkt die Wirtin mir jetzt reinen Wein ein: Ihr Mann ist nach schwerer Krankheit verstorben, sie selbst müsse morgen ins Krankenhaus, die schwere Operation sei wohl nicht mehr zu vermeiden. Eigentlich wollte sie keine Gäste mehr annehmen, mich aber auch nicht mit dem lädierten Fuß wegschicken.
„Morgen werde ich weiterwandern.“ Doch mir scheint mein Ziel so unerreichbar weit entfernt wie nie zuvor. Auf dem Bett, beim Abendessen, mache ich mir so meine Gedanken: Man soll, selbst wenn man einen wunden Punkt erreicht hat, weitergehen. Was ist aber, wenn dieser wunde Punkt der Fuß ist? Es heißt, alles hat seinen Sinn, auch Schmerzen. Ist der Sinn meiner Schmerzen der Abbruch?
Was tue ich mir eigentlich an? Einmal nach Santiago zu wandern - das hätte doch gereicht! Und beim zweiten Mal wird es nie so schön, wie man es in Erinnerung hat. Santiago ... Ich wollte eigentlich noch weiter. Habe ich nicht nur die französische Grenze erreicht, sondern auch meine eigene? Was tue ich mir eigentlich an? Was hätte ich statt der Wanderei für schöne Urlaube machen können - wieder mal nach Irland oder Thailand. Neues erkunden: Rio de Janeiro. Statt dessen quäle ich mich durch Regen und auf Asphalt in Richtung Spanien. Spanien? Gerne, auf Mallorca war ich noch nicht. Frankreich? Ja, aber bitte am Meer in der warmen Provence, nicht auf den eisigen Höhen des Zentralmassivs. Auf dem Bett sitzend versuche ich, nicht nur Frau Arnold zuliebe, die Brosamen vom Abendessen aufzuklauben. Und morgen werde ich weiterwandern.
Mit Psalm 104,15 bin ich gerüstet für den Weg durch Frankreich
Trotz dunkler Wolken hat sich meine Stimmung aufgehellt: Der Schmerz ist weg. Lebe wohl, Neuenburg ! Bonjour France! Welch ein Tag: Ich habe Frankreich erreicht. Autos mit französischen Kennzeichen
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