Helden des Olymp: Der verschwundene Halbgott (German Edition)
versprich mir – kein Feuer mehr, bis du deinem Vater gegenüberstehst. Eines Tages, Mijo, wirst du ihn treffen. Er wird alles erklären.«
Leo hatte das sein Leben lang gehört. Eines Tages würde er seinem Dad gegenüberstehen. Seine Mom hatte keinerlei Fragen zu ihm beantworten wollen. Leo war ihm nie begegnet, hatte keine Fotos von ihm gesehen, aber so wie seine Mom über ihn sprach, hätte er auch nur kurz Milch holen sein können. Leo versuchte trotzdem, ihr zu glauben. Eines Tages würde alles einen Sinn ergeben.
Die nächsten zwei Jahre waren sie glücklich gewesen. Leo hatte Tía Callida fast vergessen. Er träumte noch immer von dem fliegenden Boot, aber all die anderen seltsamen Dinge kamen ihm ebenfalls wie ein Traum vor.
Als er acht war, ging alles in Stücke. Inzwischen verbrachte er jede freie Stunde bei seiner Mom in der Werkstatt. Er konnte mit den Maschinen umgehen, Messungen vornehmen und besser rechnen als die meisten Erwachsenen. Er hatte gelernt, dreidimensional zu denken und mechanische Probleme im Kopf zu lösen, so wie seine Mom das machte.
Eines Abends blieben sie sehr lange dort, weil seine Mom an einem neuen Bauteil für einen Bohrer arbeitete, auf den sie ein Patent zu bekommen hoffte. Wenn sie den Prototypen verkaufen könnte, würde das ihr Leben ändern. Dann hätte sie endlich ihren Durchbruch.
Leo reichte ihr Werkzeuge an und erzählte ihr blöde Witze, um sie bei Laune zu halten. Er war glücklich, wenn er sie zum Lachen bringen konnte. Sie lächelte dann immer und sagte: »Dein Vater wäre stolz auf dich, Mijo. Du wirst ihm bald begegnen, da bin ich mir sicher.«
Moms Arbeitsplatz war ganz hinten in der Werkstatt. Es war eine unheimliche Nacht, denn außer ihnen war niemand dort. Jedes Geräusch hallte in dem dunklen Lagerhaus wider, aber Leo war das egal, wenn er nur bei seiner Mom sein konnte. Wenn er in der Werkstatt herumwanderte, dann blieb er immer durch Morsezeichen mit ihr in Verbindung. Wenn sie zum Aufbruch bereit waren, mussten sie durch die ganze Lagerhalle gehen, durch den Pausenraum und auf den Parkplatz hinaus, und sie mussten alle Türen hinter sich abschließen.
Als sie an diesem Abend fertig waren, gingen sie gerade am Pausenraum vorbei, als seine Mom merkte, dass sie ihre Schlüssel vergessen hatte. »Komisch«, sie runzelte die Stirn. »Ich bin sicher, dass ich sie eben noch hatte. Warte hier, Mijo. Ich bin gleich wieder da.«
Sie war erst für einige Herzschläge verschwunden, als die Tür des Pausenraums zufiel. Dann verriegelte sich auch die Ausgangstür.
»Mom?« Leos Herz hämmerte. Etwas Schweres ging in der Werkstatt zu Boden. Er rannte zur Tür, aber sosehr er auch zerrte oder trat, sie ging nicht auf. »Mom!« Verzweifelt tippte er eine Frage gegen die Wand: »Alles in Ordnung bei dir?«
»Sie kann dich nicht hören«, sagte eine Stimme.
Leo fuhr herum und sah eine fremde Frau vor sich. Zuerst hielt er sie für Tía Callida. Sie trug schwarze Gewänder und einen Schleier vor dem Gesicht.
»Tía?«, fragte er.
Die Frau kicherte, ein leises Geräusch, als schliefe sie halb. »Ich bin nicht deine Hüterin. Das ist nur die Familienähnlichkeit.«
»Was … was willst du? Wo ist meine Mom?«
»Ah … loyal deiner Mutter gegenüber. Rührend. Aber ich habe ebenfalls Kinder … und soviel ich weiß, wirst du eines Tages gegen sie kämpfen. Wenn sie versuchen, mich zu erwecken, wirst du sie daran hindern wollen. Das kann ich nicht zulassen.«
»Ich kenne Sie nicht. Ich will mit niemandem kämpfen.«
Sie murmelte wie eine Schlafwandlerin in Trance: »Eine weise Entscheidung.«
Fröstelnd erkannte Leo, dass die Frau wirklich halb im Schlaf war. Hinter ihrem Schleier waren ihre Augen geschlossen. Aber was noch seltsamer war: Ihre Kleider waren nicht aus Stoff. Sie waren aus Erde – trockener schwarzer Erde, die um sie herumwirbelte und sich immer wieder anders formierte. Ihr bleiches schlafendes Gesicht war hinter dem Staubvorhang kaum zu sehen, und er hatte das entsetzliche Gefühl, dass sie sich soeben aus dem Grab erhoben hatte. Wenn die Frau schlief, fand Leo, solle sie das bloß weiter machen. Er wusste, in wachem Zustand würde sie noch beängstigender sein.
»Ich kann dich noch nicht vernichten«, murmelte die Frau. »Die Moiren würden das nicht erlauben. Aber deine Mutter beschützen sie nicht und sie können mich nicht daran hindern, deinen Mut zu brechen. Denk an diese Nacht zurück, kleiner Held, wenn sie dich auffordern, dich
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