Hengstgeflüster (German Edition)
sich heute eine kleine restaurierte Kapelle, wusste sie, weil sie während der Fahrt Rons Reiseführer durch die Toskana studiert hatte. Der Ort Cascine di Buti, der eingebettet am Fuße des Berges lag, hatte etwa sechstausend Einwohner und noch nichts von dem Charme vergangener Epochen eingebüßt. Eine gewundene Straße führte von der Ruine hinab bis ins Tal und verlief sich auf dem großen gepflasterten Marktplatz, der den Mittelpunkt des gesellschaftlichen Lebens der Bevölkerung hierorts darstellte. Hier trafen sich Leute zum Gespräch und wickelten Geschäfte ab. Wöchentlich gab es einen großen Bauernmarkt, auf dem regionale Produkte zum Kauf angeboten wurden. Es wurde getratscht, gestritten, gefeilscht und verhandelt. Hier pulsierte das Leben in seiner reinsten Form.
Keuchend blieb Bell stehen. Sie fröstelte. Den ganzen Tag über hatte sie so sehr geschwitzt, dass sie jetzt, nach Sonnenuntergang, trotz ihrer Anstrengung fror. Ihr Fuß schmerzte, besonders der linke. Dort befanden sich bereits mehrere durchgelaufene Blasen. Dieser Schmerz war jedoch nichts im Vergleich zu den Qualen ihrer lädierten Schultern.
Ihre Arbeitskollegin Samantha, der weibliche Part des Paris Fried Chickens , würde sagen: „Schätzchen, nur wenn du Schmerzen hast, weißt du, dass du am Leben bist.“ Nun ja, Sam war eine von der pessimistischeren Sorte. Stand auf Schläge und solche Sachen. Diese Tortur, die würde ihr auf perverse Weise gefallen, dachte Bell. Ganz bestimmt!
Vor ihr erblickte sie das nagelneue Schild, das die Podere la Buti , das Anwesen ihres Gastgebers, ankündigte.
Sie war zum Umfallen müde.
Mit letzter Kraft schleppte sie sich samt ihres Koffers zu den schattenhaften Häusern und ging wie ausgemacht am größeren Gebäude vorbei zu dem lang gestreckten, niedrigen Cottage. Daneben ragte die Silhouette einer turmhohen Zypresse wie ein Speer, vom silbrigen Mondlicht beschienen, aus der düsteren Landschaft empor.
Sie blickte sich um und sah ihren hartnäckigen Verfolger schemenhaft durch den weitläufigen Innenhof huschen. Es schien sich wirklich niemand auf dem Gehöft zu befinden, dachte sie. Die Tür des Cottage war unversperrt und quietschte leise, als sie eintrat. Der Duft nach getrockneten Kräutern, nackten Steinwänden und selbstgemachtem Brot schlug ihr entgegen. Im Inneren war es herrlich kühl und die unverbrauchte Luft war eine wahre Wohltat für Bells zermarterten, gepeinigten Körper.
In der Ecke neben der Tür fand sie einen Lichtschalter. Als es hell wurde sah sie sich neugierig um. Wie versprochen war das Sofa in der Mitte des spärlich eingerichteten Raumes mit frischen Laken überzogen und obendrauf lag eine Decke bereit. Die massive Anspannung der letzten Tage fiel wie eine tonnenschwere Last in Form ihres Koffers von Bells Schultern. Sie sank dankbar auf das bescheidene Lager und schlummerte Sekunden später mitsamt ihrer Kleidung und ihren Schuhen tief und fest ein.
2. Kapitel
Wütendes Gekläff und tiefes, drohendes Zähnefletschen, vermischt mit einer Tirade an Flüchen und Geschrei, rissen Bell am nächsten Morgen aus dem Schlaf der Toten. Vor dem Cottage schien ein Kampf um Leben und Tod von statten zu gehen.
„Um Gottes willen, was…?“, murmelte sie verschlafen.
Ein lautes Krachen ließ sie aufschrecken und sie stürzte polternd von ihrer schmalen Schlafstätte auf den harten, schiefrigen Holzboden.
„Madonna mia, cielo, vattene botolo!“ Ein dunkler, schwingender und schwer genervter Bariton mischte sich zwischen die Laute des Gemetzels vor dem Cottage. Plötzlich krachte die schwere Holztür ächzend auf, knallte an die hintere Hauswand und Bell, die am Boden kauerte und sich gerade ihren angestoßenen Ellenbogen rieb, erblickte fassungslos den fleischgewordenen Traum aller Schwiegermütter, der sich in der Türangel aufbaute. Meine Güte, was für ein Mann!
Der Coca–Cola–Mann stand in Fleisch und Blut vor ihr. Schön sonnengebräunt war er. Sein Haar war vielleicht eine Spur zu lang, um noch seriös zu wirken und hatte die Farbe von schwarzen Oliven. Warf man einen Blick in seine Augen, versank man in einem tiefen, vielschichtigen Ozeanblau. Die Perlen des Meeres. Jede Frau auf Gottes Erdboden würde sich auf der Stelle von diesem Kerl besteigen lassen. Jede, außer Bell natürlich.
Wie kam sie nur auf solch einen abartigen Gedanken? Lächerlich geradezu.
Im Moment braute sich in seinen faszinierend blauen Augen allerdings ein schweres Donnerwetter
Weitere Kostenlose Bücher