Hennessy 02 - Rätselhafte Umarmung
schon haben?
Sie hatte bloß so stark auf ihn reagiert, weil sie so erschöpft und er galant genug gewesen war, ihr eine Schulter zum Ausweinen und sein Bett zum Schlafen anzubieten. Er wollte bestimmt sowieso nichts mit ihr zu tun haben. Wer würde sich schon all die Probleme aufhalsen wollen, die auf sie zukamen?
Du muss t ihr helfen.
Bryan runzelte die Stirn. Er rutschte in dem blutroten Ledersessel herum. Das Arbeitszimmer lag in Raster Nummer neun auf seiner Karte des Erdgeschosses von Drake House. Addie hatte ihm erzählt, sie habe gesehen, wie sich in diesem Raum Dinge bewegt hätten - mit Wimseys Hilfe. So wie sie es geschildert hatte, hatte Wimsey zweimal die Möbel umgestellt, weil »er es mag, wie er es mag«. Einmal hatte sie alles wieder zurückgeräumt, aus purem Trotz, aber Wimsey hatte alles wieder auf seinen Platz geschoben. Bryan hatte beschlossen, die Nacht in diesem Zimmer zu verbringen, weil er genau wusste , daß er nicht schlafen würde, und weil er auf eine Ablenkung hoffte - Wimseys Erscheinen, ein Buch, das von selbst aus dem Regal fiel, einen plötzlichen kalten Windstoß, irgendwas. Irgendwas, das ihn von der Vorstellung ablenken würde, wie Rachel Lindquist in dem Bett schlief, in dem auch er geschlafen hatte, wie sie ihren schlanken Leib in seine Decken hüllte und wie sie ihr Engelsgesicht in seinem Kissen barg.
Er stöhnte, weil ihm sc h on wieder eine Hitzewelle durch die Adern schoss . Er konnte sich genau ausmalen, wie sie aussah, wenn sie schlief: anschmiegsam und verführerisch und das honiggoldene Haar in einem Fächer um ihr Gesicht ausgebreitet. Wahrscheinlich trug sie ein T-Shirt, und der weiche Stoff würde ihre Brüste nachformen, so wie seine Hände sie nachformen wollten. Der Gedanke erregte ihn unwillkürlich.
Er fluchte leise. War er tatsächlich so ein verdorbener Lüstling? Die arme, erschöpfte, verängstigte, verletzte Rachel versuchte, wenigstens ein paar Stunden lang Ruhe zu finden und ihre Probleme zu vergessen, und er saß hier und begehrte sie!
Sie ist sehr hübsch.
»Ja, sie ist hübsch«, knurrte er. »Sie ist sehr hübsch. Und sie hat eine Menge Probleme, und ich will mich nicht einmischen.«
Zum ersten Mal machte er sich Gedanken über den Folksänger, mit dem Rachel vor fünf Jahren durchgebrannt war. Wo war er? Was für ein Rhinozeros war er eigentlich, Rachel in so einer Krise im Stich zu lassen? Clarence Soundso. »Einen billigen Landstreicher«, hatte ihn Addie genannt. Irgendwie konnte Bryan nicht glauben, daß Rachel mit einem billigen Landstreicher durchbrennen würde. Auch wenn sie einfach angezogen war, sie strahlte Klasse aus. Man merkte das an ihrer Haltung, an jeder Bewegung und an jedem Wort.
Offenbar war doch mehr an der Geschichte von der »undankbaren« Tochter, die mit einem »billigen Folksänger« davongelaufen war. Bryan war von sich ein bisschen enttäuscht, weil er so bereitwillig das Schlimmste geglaubt hatte. Vor allem, nachdem er die Geschichte von Addie gehört hatte, die meist reichlich verwirrt war. Vielleicht war Rachel Lindquist ja undankbar bis ins Mark, aber es stand ihm nicht zu, darüber zu urteilen, bevor er alle Tatsachen kannte. Andererseits würde es sein Leben erheblich vereinfachen, wenn er weiterhin das Schlimmste glaubte und sich von ihr fernhielt.
Noch während er das dachte, dämmerte ihm, daß das bestimmt nicht passieren würde. Es war einfach nicht seine Art, so hart über einen Menschen zu urteilen. Und es war auch nicht seine Art, tatenlos zuzusehen, wie eine junge Frau mit einer Last kämpfte, die viel zu schwer für sie war.
Er hatte sich immer um die Frauen in seinem Leben gekümmert. Erst um seine Schwestern, dann um Faith und Alaina und Jayne. Dann um Serena. Jetzt war Serena nicht mehr da, und die drei hübscheren Viertel der Furchtbaren Vier wurden von ihren Lebensgefährten umsorgt. Auftritt von Rachel Lindquist mit ihren großen dunkelblauen Augen und dem unglaublichen rosa Mund und dem eigensinnig und stolz vorgereckten kleinen Kinn.
Aufgewühlt sprang Bryan aus dem Sessel und begann, mit gesenktem Kopf den Raum abzuschreiten. Immer wieder fuhr er sich mit der Hand durch das hellbraune Haar. Du muss t ihr helfen. Sie braucht Hilfe.
»Nein, ich nicht. Ich kann niemandem helfen. Ich kann nicht mal mir selbst helfen. Sie kann sich von dem Arzt helfen lassen. Sie kann in eine Selbsthilfegruppe gehen. Ich will nichts damit zu tun haben.«
Er marschierte weiter. Eigenartig
Weitere Kostenlose Bücher