Henningstadt
Freund wird sie wissen, dass ein Ende mit Schrecken besser ist als ein Schrecken ohne Ende. Dass man sich die Haare richtet, ist übrigens nicht weiter ungewöhnlich. Viele Angehörige der Hen ning städter Kultur tun es. Oft geschieht es sogar auf der Straße – ohne jede Scham!
«Ja, hallo. Hier ist Isabell», informiert sie den Teil neh mer am anderen Ende der Leitung.
«Ich weiß», sagt Andreas. «Schließlich habe ich dich an gerufen.»
«Wer ist denn da, bitte?», fragt Isabell den Teilnehmer.
«Sag mal, spinnst du?», sagt Andreas, jetzt ehrlich ver wundert. «Erst brauchst du drei Jahre, um von deinem Zimmer ans Telefon zu kommen, und jetzt – »
«Ich hab mir nur schnell die Frisur gerichtet.»
«Welche Frisur?», fragt Andreas sauer zurück. Er hat noch nie erlebt, dass sich Isabell die Frisur richtet, wenn es keinen gewichtigen Grund gab. Einerseits fühlt er sich geschmeichelt. Andererseits kann er sie ja nicht sehen. Es macht also keinen Sinn, sich zu frisieren, um mit ihm zu telefonieren, denkt sich Andreas. Er ist verwirrt. Wer rech net schon mit echter Bos haftigkeit, wenn er seine Freundin anruft?
«Meine Schamhaarfrisur», antwortet Isabell in pathe ti schem Ton.
Andreas weiß nicht, was er antworten soll. Isabell hat keine Schamhaarfrisur. Es sei denn, sie benutzt Locken wickler, um ihr Schamhaar darauf aufzuwickeln, schießt es ihm durch den Kopf. Vielleicht hat sie überhaupt ihre Tage. Nachdem die Leitung eine Weile still war, fragt Isabell, was er will.
«Ich will dich sehen», sagt Andreas. «Du warst nicht in der Schule und ich dachte, dass du vielleicht krank bist.»
«Und du hattest nichts besseres zu tun, als hier anzu rufen und meiner Mutter zu stecken, dass ich schwänze.»
«Ich wusste ja nicht, dass du schwänzt. Sorry!»
«Hättest du dir aber denken können, was!»
«Hast du deine Tage?», polemisiert Andreas.
«Erstens solltest du noch wissen, wann die sind, und zweitens hab ich ab jetzt immer meine Tage, wenn du anrufst.» Isabell knallt den Hörer auf das Telefon und will den Weg in ihr Zimmer antreten. Das Telefon läutet. Sie nimmt kurzentschlossen ab. «Ja!»
«Sag mal, du hast wohl ‘ nen Knall!», ruft der miss handelte Andreas in den Hörer.
«Ich weiß nicht, ob – », sagt sie, und er unterbricht sie:
«Ich komme vorbei. Bis gleich.» Bevor sie was antwor ten kann, hat er aufgelegt. Ebenfalls heftig.
«Ja, komm nur!», murmelt Isabell böse vor sich hin, um sich Mut zu machen. Sie muss es ihm sagen. Und Hen ning wird sie wollen, wenn er weiß, dass er darf, dass er keine Beziehung auseinander bringt. Isa denkt sich Hen nings Körper in Ekstase. Sie will es erleben. Sie erin nert sich an den Geschmack seiner Lippen, seinen Geruch, seine liebevolle Art. Andreas muss verschwinden.
10
Steffen macht sich auf den Weg in die SIH. Er erinnert sich, dass die Stadt genau so süß und übersichtlich ge wirkt hat, als er hergezogen ist. Für den Blick des Neu ankömmlings sind die Gässchen und Sträßchen der Stadt sehr putzig. Wenn man hier zu tun hat, ärgert man sich über die Stolperfallen des Pflasters und darüber, dass es außer vom Rathaus zur Marienkirche keine direkten We ge gibt, sondern nur Zickzackbahnen. Steffen lässt die Kir che links liegen und biegt rechts in die Glöcknergasse, in der das Gemeindehaus der Mariengemeinde steht. Hier in Henningstadt gibt es eine evangelische Marienge mein de, die einzige im ganzen Land. Die Stadt- und die Kir chen verwaltung deuten das für gewöhnlich als Zeichen der toleranten Tradition Henningstadts: Immer dann, wenn man irgendwas nicht erlauben oder wieder verbie ten will. Zum Beispiel den lesbisch-schwulen Infostand vor dem Rathaus zum CSD vor zwei Monaten.
In der SIH, der schwulen Henningstädter Gruppe, gibt es einen Historiker, Christian, der sich mit Artikelschrei ben knapp unter Wasser hält. Der hat sich mal die Mühe gemacht, der Sache auf den Grund zu gehen. Christian hat in den lokalen Archiven nachgestöbert, und weil er nicht nur sein Studium abgeschlossen hat, sondern auch schon fast promoviert ist, hat er faszinierende For schungs ergebnisse zu Tage gefördert. Zusammenfassend ist herausgekommen, dass die Henningstädter nicht tole rant, sondern dickköpfig sind: Nachdem der Landesfürst 1575, elf Jahre nach dem Tridentinum, evangelisch gewor den war, mussten die Landeskinder seine Religion anneh men. Haben sie auch. Ab da hieß die Kirche Lutherkirche. Das ist den Kindern
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