Henningstadt
der Stadt aber nicht in den Kopf gegangen, oder sie mochten Maria lieber als Luther, jeden falls haben sie die Kirche weiter Marienkirche ge nannt. Nach dreißig Jahren ist anlässlich irgendeines Patzers sogar der Bischof gekommen und hat den Hen ning städter Lutheranern noch mal gesagt, dass Marien kirche als Name nicht geht. Nach ein paar Jahren taucht die Kirche in den städtischen Dokumenten als Luther kirche, die so genannte Marienkirche auf. Wieder zwei Jahr zehnte später, als der Pfarrer der Marienkirche selbst Hen ningstädter war, heißt die Kirche endgültig wieder Marienkirche, und man scheint die Widerborstigkeit der Henningstädter seitdem geduldet zu haben. Ab 1614 steht der Pfarrer der Kirche als Pastor der Marienkirche auf den offiziellen bischöflichen Gehaltslisten. Als Christian seinen polemischen Artikel im Henningstädter Anzeiger ver öffentlichte, ging ein Aufschrei durch ganz Henning stadt, und Christian gilt seitdem als kritischer Chronist der Stadt. Er wird jetzt gelegentlich zu Podiums dis kus sionen, die die Stadtentwicklung oder den Zeitgeist be tref fen, eingeladen, weil man in Henningstadt eine kriti sche Stimme nicht nur vertragen kann, sondern sogar schätzt.
Dem Chefredakteur haben die vielen Leserbriefe, die als Reaktion auf den Artikel über die historische Sturheit der Henningstädter kamen, gefallen, so dass Christian sicher sein kann, eine feste Anstellung bei dem Blatt zu bekommen, sobald der derzeitige Kultur- oder der Lokales-Mann verschieden ist. Christian ist mit Steffen befreundet.
Steffen steht vor dem Gemeindehaus, einem alten Ge bäude aus Grauwacke. Er stolpert und flucht. Das war der große Bodenstein der Tür, den man nie richtig sieht, weil man nicht damit rechnet. Von den S IH -Leuten wird er liebevoll die Hemmschwelle genannt, weil Neue regel mäßig darüber stolpern. Oft bietet sich dadurch ein un ver krampfter Einstieg in die Unterhaltung.
«Wir dachten schon, du bist der neue Märchenprinz», sagt Gerrit.
«Gibt ’ s denn einen neuen Märchenprinzen, kaum dass ich mal zwei Wochen weg war?», fragt Steffen nach.
«Nein, nein, deshalb ja», sagt Gerrit.
«Und – wie war die Hochzeitsreise?», fragt Christian.
«Die Scheidung», sagt Steffen.
Christian seufzt.
Der Raum ist dunkel eingerichtet. Eichentische, eine Theke aus Eichenholz. Große Lampen aus den Siebzigern. Ein paar christliche Plakate. Die SIH verzieht sich immer in die linke Ecke des Raumes, wo ein Sofa steht. Ein nied riger Tisch davor, um den man Stühle stellt. Flaschenbier gibt es zum Fast-Selbstkostenpreis in einem Kabuff hinter dem Tresen. Steffen holt sich eins.
«Hier ist doch noch ‘ ne Flasche», ruft ihm Peter hinter her.
«Was denn?», ruft Steffen zurück.
«Na, Bier!»
«Was für welches?»
«Hennings Edelbräu!»
«Ach nö», sagt Steffen und kommt mit einer Flasche Veltins in der Hand zur Sitzgruppe.
Seit dem gemeinsamen Loriot-Abend heißt das Sofa mit dem Tisch und den Stühlen die Sit z gruppe. – Es sei denn, es ist ein Neuer da. Wenn er nicht einen allzu ver schüchterten Eindruck macht, bittet man ihn demon stra tiv auf die Couch, woraufhin die versammelte Selbsthilfe grup pe und der Neue meist lachen.
Mit Steffen sind sechs Leute im Raum: Christian, Gerrit, Peter, Hanno, Gerd und Mark. «Also, es ist halb neun, sollen wir nicht mal langsam anfangen?», drängelt Mark.
«Womit denn?», erkundigt sich Hanno.
Peter fasst sich an den Kopf, Gerd verdreht die Augen und Christian lächelt säuerlich.
«Mit Gruppe?», sagt Mark ironisch.
«Wo sind denn alle andern?», fragt Peter.
« – Märchenprinzen», ergänzt Gerrit.
«Es ist Sommer», sagt jemand.
«Worüber sollen wir also reden?», fragt Mark.
«Hat jemand einen Vorschlag?», erkundigt sich Peter.
«Über das Wette r» , sagt Gerd halblaut.
«Also wenn wir nicht Gruppe machen, brauchen wir uns auch nicht zu treffen!», sagt Peter.
«Ja», fügt Christian trocken an. Steffen lacht auf.
«Dann mach einen Vorschlag!», sagt Hanno zu Peter.
«Also wir könnten ja über Beziehungen reden», sagt Gerrit.
Das wäre nicht gerade zum ersten Mal. Gerd fasst sich an den Kopf, Peter verdreht die Augen, Christian lächelt säuerlich.
«Was denkst du über Beziehungen, Peter?», fragt Gerd guten Willens, um die Unterhaltung in Gang zu bringen. Peter sieht ihm gelangweilt in die Augen.
«Wieso ich? Ich bin seit zwölf Jahren mit Karl zusam men. — Ich darf gar nichts über Beziehungen denken.»
«Ach
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