Herbst
II , 209f.
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Schmargendorf, am 5. Nov. 1900
Wie prächtig ist es jetzt bei mir geworden. Denken Sie, liebe Paula Becker, ich hatte auf meinem Schreibtisch einen Kupferkrug, darin Georginen von der Farbe alten Elfenbeins, leise gilbende Georginen, standen, gerade so, daà die phantastischen wunderbaren Blätter des Kohls nur dazu gesteckt werden muÃten, damit ein Wunder geschähe. Es ist geschehen und wirkt. â Auf der zu dem Bücherregal
gebauten Bank war ein hohes schlankes Glas mit einigen Hagebutten-Zweigen aufgestellt, dort fügten sich die schweren Dolden der Vogelbeeren ein, und zu Föhrenzweigen reimten die groÃen gelben und goldenen Blätter sich, diese groÃen Kastanienblätter, die wie ausgespannte Hände des Herbstes sind, welche Sonnenstrahlen ergreifen wollten. Aber jetzt wo die Sonnenstrahlen nicht mehr gehen, sondern Flügel haben, fängt kein Kastanienblatt einen Sonnenstrahl. Alles bei mir (will ich mit dieser Aufzählung sagen) war vorbereitet, den Herbst zu empfangen, mit dem Sie mich überrascht und beschenkt haben. Für jedes Stück Ihres reichen Herbstes war schon ein Platz bestimmt, vorbestimmt von der Fürsehung. Auch für die Kastanienkette. Nur hängt sie bei mir nicht immer an der Wand, sondern ich hole sie manchmal und lasse sie wie einen Rosenkranz (Sie kennen doch diese katholischen Gebetsketten?) durch die Finger gleiten. Man muà bei jeder Kugel solcher Rosenkränze ein bestimmtes Gebet wiederholen; ich ahme dieser frommen Regel nach, indem ich bei jeder Kastanie etwas Liebes denke, das sich auf Sie und Clara Westhoff bezieht. Da erweist es sich nur, daà der Kastanien zu wenige sind.
Diese ersten Novembertage sind für mich immer katholische Tage. Der zweite Novembertag ist der Tag von Allerseelen, den ich bis zu meinem 16. oder 17. Jahr immer, wo ich auch gerade gewohnt haben mag, auf Kirchhöfen verbrachte an fremden Gräbern oft und oft an den Gräbern von Verwandten und Vorfahren, an Gräbern, die ich mir nicht erklären konnte und über die ich nachdenken muÃte in den wachsenden Winternächten. Damals kam mir wohl zuerst der Gedanke, daà jede Stunde, die wir leben eine Sterbestunde ist für irgendwen, und daà es wohl sogar mehr Sterbestunden als Stunden der Lebendigen giebt.
Der Tod hat ein Zifferblatt mit unendlich viel Zahlen ⦠Jetzt besuche ich seit Jahren keine Gräber mehr zu Allerseelen. Nur zu Heinrich von Kleist pflege ich in diesen Tagen hinauszufahren nach Wannsee. Spät im November ist er da drauÃen gestorben; in einer Zeit wo viele Schüsse fallen im leeren Walde, fielen auch die zwei schweren Schüsse aus seiner Waffe. Sie unterschieden sich kaum von den andern, vielleicht daà sie etwas heftiger waren kürzer, athemloser â¦â. Aber in der lastenden Luft werden die Geräusche alle ähnlich und stumpfen sich ab an den vielen weichen Blättern die überall im Sinken sind.
Aber, ich merke, das ist kein Brief für Sie und eigentlich auch für mich keiner. Ich habe Sehnsucht, Freundin. Leben Sie wohl.
âââââIhr Rainer Maria
Modersohn-Becker (5. 11. 1900), 19f.
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Ich verrinne, ich verrinne
wie Sand, der durch Finger rinnt.
Ich habe auf einmal so viele Sinne,
die alle anders durstig sind.
Ich fühle mich an hundert Stellen
schwellen und schmerzen.
Aber am meisten mitten im Herzen.
Ich möchte sterben. Laà mich allein.
Ich glaube, es wird mir gelingen,
so bange zu sein,
daà mir die Pulse zerspringen.
Werke I , 266f.
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Ich habe niemals gewagt, von ihm eine Zeitung zu kaufen. Ich bin nicht sicher, daà er wirklich immer einige Nummern bei sich hat, wenn er sich auÃen am Luxembourg-Garten langsam hin und zurück schiebt den ganzen Abend lang. Es kehrt dem Gitter den Rücken, und seine Hand streift den Steinrand, auf dem die Stäbe aufstehen. Er macht sich so flach, daà täglich viele vorübergehen, die ihn nie gesehen haben. Zwar hat er noch einen Rest von Stimme in sich und mahnt; aber das ist nicht anders als ein Geräusch in einer Lampe oder im Ofen oder wenn es in eigentümlichen Abständen in einer Grotte tropft. Und die Welt ist so eingerichtet, daà es Menschen giebt, die ihr ganzes Leben lang in der Pause vorbeikommen, wenn er, lautloser als alles was sich bewegt, weiter rückt wie ein Zeiger, wie eines Zeigers Schatten, wie die Zeit.
Wie
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