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Herbst

Herbst

Titel: Herbst Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Rainer Maria Rilke
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Flammen
 unsere Sehnsucht saß und – schlief.
Der junge Mann:
 Glaubst Du, Schwester,
 Sehnsucht in Dir
 kann einmal schlafen ?
Das Mädchen:
 Fester als wir …
  Pause
Der junge Mann:
  Meine Sehnsucht war immer wach.
 Tausendfach fühlte sie jede Freude,
 die der Tag in das Land gelacht,
 und in der Nacht
 baute sie lauter weiße Gebäude.
Das Mädchen:
 Wo?
Der junge Mann:
 Wir werden sie nicht mehr sehn …
Das Mädchen:
 Was macht uns blind?
Der junge Mann:
  fortfahrend
 Viele verlassene Städte stehn,
 viele vergessene Gärten vergehn
 mitten im Wind …
Das Mädchen:
 Wie Du das sagst. Man muß traurig sein.
 Und Du, bist Du selber traurig?
Der junge Mann:
 Nein.
 Nur leis.
 Man muß nicht immer so oder so sein.

 Vielleicht ist Traurigsein reiferes Frohsein, –
 wer weiß?
 Vielleicht, daß wir allem unrecht tun,
 was uns umgibt.
 Wie dürften wir ruhn,
 eh uns Alles liebt.
Das Mädchen:
 Aber denk nur: wir waren doch froh …
Der junge Mann:
 Wir waren so
 wie die Kinder sind, die spielen,
 bis man sie schlafen schickt.
 Wir haben uns manchmal angeblickt
 wie Kinder, die zu ungewohnter Stunde wachen:
 Eingetrocknetes Lachen
 auf müdem Munde.
 Augen, die nichtmehr schauen,
 Augen aus Glas,
 offengehalten von irgendwas.
 Fühlst Du kein Grauen?
  Pause
 Verzeih mir. Es wird ja nichtmehr so sein.
 Du bist wieder Dein. Ich bin wieder mein.
 Und jedes ist anders als zuvor.
Das Mädchen:
 Ich glaube: wer Liebe verlor,
 hat Liebe niemals erworben. –
 Wo gehst Du jetzt hin?
Der junge Mann:
 Von Sinn zu Sinn.
 Meine Sterne sind ja nicht gestorben,
 Schwester.
 Ich glaube fester an sie als je.

 Nur weiß ich: Wunder und Weh
 kommen von anderswo.
 Es ist alles nicht so,
 wie man meint:
 Man weint sich nicht in ein Leid hinein
 und lacht sich nicht in ein Seligsein
 und wärmt sich an keiner Verwandtschaft.
 Und was Du schaust
 und erbaust,
 liebst und verstehst:
  ist alles Landschaft ,
  durch die Du gehst.
    Werke III , 394-397
    Ernste Stunde
    Wer
jetzt weint irgendwo in der Welt,
ohne Grund weint in der Welt,
weint über mich.
 
Wer
jetzt lacht irgendwo in der Nacht,
ohne Grund lacht in der Nacht,
lacht mich aus.
 
Wer
jetzt geht irgendwo in der Welt,
ohne Grund geht in der Welt,
geht zu mir.
 
Wer
jetzt stirbt irgendwo in der Welt,
ohne Grund stirbt in der Welt:
sieht mich an.
    Werke I , 405f.
    Â 
    Â 
    Seitdem habe ich viel über die Todesfurcht nachgedacht, nicht ohne gewisse eigene Erfahrungen dabei zu berücksichtigen. Ich glaube, ich kann wohl sagen, ich habe sie gefühlt. Sie überfiel mich in der vollen Stadt, mitten unter den Leuten, oft ganz ohne Grund. Oft allerdings häuften sich die Ursachen; wenn zum Beispiel jemand auf einer Bank verging und alle standen herum und sahen ihm zu, und er war schon über das Fürchten hinaus: dann hatte ich seine Furcht. Oder in Neapel damals: da saß diese junge Person mir gegenüber in der Elektrischen Bahn und starb. Erst sah es wie eine Ohnmacht aus, wir fuhren sogar noch eine Weile. Aber dann war kein Zweifel, daß wir stehenbleiben mußten. Und hinter uns standen die Wagen und stauten sich, als ginge es in dieser Richtung nie mehr weiter. Das blasse, dicke Mädchen hätte so, angelehnt an ihre Nachbarin, ruhig sterben können. Aber ihre Mutter gab das nicht zu. Sie bereitete ihr alle möglichen Schwierigkeiten. Sie brachte ihre Kleider in Unordnung und goß ihr etwas in den Mund, der nichts mehr behielt. Sie verrieb auf ihrer Stirn eine Flüssigkeit, die jemand gebracht hatte, und wenn die Augen dann ein wenig verrollten, so begann sie an ihr zu rütteln, damit der Blick wieder nach vorne käme. Sie schrie in diese Augen hinein, die nicht hörten, sie zerrte und zog das Ganze wie eine Puppe hin und her, und schließlich holte sie aus und schlug mit aller Kraft in das dicke Gesicht, damit es nicht stürbe. Damals fürchtete ich mich.
    Aber ich fürchtete mich auch schon früher. Zum Beispiel, als mein Hund starb. Derselbe, der mich ein- für allemal beschuldigte. Er war sehr

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