Herbstbringer (German Edition)
»Aber würdest du nicht gerne wissen, was du früher so alles erlebt hast? Wo du schon überall warst und wer deine …« Sie brach mitten im Satz ab.
»Wer meine Eltern sind?«, beendete Emily den Satz mit fester Stimme.
»Tut mir leid, ich wollte nicht …«, stammelte Sophie. Doch Emily winkte lächelnd ab. Die Jahre im Waisenhaus hatten ihr überdeutlich gezeigt, wie viel Schmerz der Tod der Eltern bei anderen Waisen ausgelöst hatte. Doch sie konnte sich ja nicht daran erinnern, je welche gehabt zu haben.
Nachdem sie dies gesagt hatte, schwieg Sophie kurz. Dann erwiderte sie: »Echt krass, dass du nichts über dich oder deine Eltern rausfinden konntest. Ich meine, du hast dich doch bestimmt nicht ohne Weiteres damit zufriedengegeben, dass du einfach so auf diese Welt gefallen bist. Du … du hast doch nach ihnen gesucht, oder?«
»Anfangs schon, aber das habe ich schnell aufgegeben. Welche Chance hätte ich auch, wenn schon das Waisenhaus nie etwas herausgefunden hat …« Ihr Blick fiel auf eine Filmzeitschrift auf Sophies Nachttisch. Titelthema war ein aufwendiger Science-Fiction-Knaller. »Vielleicht waren es ja Außerirdische, die mich hier zurückgelassen haben.«
Sophie kicherte. »Oder du kommst eigentlich aus der Zukunft, und deine Eltern sind noch gar nicht geboren.« Dann wurde sie ungewohnt ernst. »Ob es besser ist, gar nicht zu kennen, was man vermissen könnte? Wenn man nicht jeden Tag daran erinnert wird, was einem fehlt?«
Emily wurde hellhörig. Bislang hatte sie sich aus Andeutungen und unabsichtlich aufgeschnappten Satzfetzen zusammenreimen müssen, dass Sophies beste Freundin unter mysteriösen Umständen verschwunden war. Konkret angesprochen hatte man dieses Thema noch nicht. Was Emily allerdings nicht daran gehindert hatte, diese ganz besonders bittere Art von Fröhlichkeit zu spüren, mit der die Eltern verzweifelt versuchten, die Trauer ihrer Tochter zu überdecken.
»Deine Freundin … was ist mit ihr passiert?«, fragte sie vorsichtig.
Sophie schien regelrecht auf diese Frage gewartet zu haben. Sie stand schweigend auf, ging zur Fensterbank und kam mit einem kleinen Bilderrahmen zurück. Eine der beiden Personen erkannte Emily sofort – ein junges Mädchen mit Sommersprossen, dessen schiefes Grinsen höchstens von der schiefen Brille übertroffen wurde, die noch heute auf ihrer Nase thronte. Sophie. Neben ihr war ein Mädchen zu sehen, das irgendwie reifer und selbstbewusster wirkte.
Sophie setzte sich wieder neben sie, den runden Bilderrahmen auf ihrem Schoß. Emily wartete stillschweigend.
»Anne und ich waren seit dem Kindergarten die besten Freundinnen«, erzählte Sophie mit ungewohnt leiser Stimme, nachdem sie eine Zeit lang auf das Bild gestarrt hatte. »Sie wohnte nur zwei Straßen weiter, neben dem Sportplatz. Ohne sie hätte ich mehr als eine Bioarbeit verhauen, und sie wäre in Englisch ohne mich ziemlich aufgeschmissen gewesen. Wir waren wirklich immer zusammen, sogar im Urlaub. Und dann, letztes Jahr, ist sie einfach verschwunden.«
»Ist sie tot?«
Sophie schüttelte ungestüm den Kopf. »Das glaube ich nicht! Die Polizei hat den Fall zwar schon längst abgeschlossen, aber man hat ihre … ihre Leiche nie gefunden. Du hältst mich vielleicht für verrückt, aber ich weiß einfach, dass sie nicht tot ist, egal, was die anderen sagen. Ich weiß es!«
Sie atmete schwer. Entsetzt sah Emily, dass sich Sophies Augen mit Tränen füllten. In solchen Situationen wusste sie nie, wie sie sich verhalten sollte. Also schwieg sie unbehaglich, bis Sophie sich wieder gefangen hatte.
»Meine Eltern sagen, dass ich mich damit abfinden soll«, fuhr Sophie kurz darauf fort. »Sie finden es ungesund, dass ich immer noch glaube, dass ich sie irgendwann wiedersehen werde, und haben Angst, dass ich mich abkapseln würde. Als wäre das nicht schon längst geschehen! Sie haben mich zu Psychiatern geschickt, gelangweilten Typen, die mich in ihre üblichen Kategorien gesteckt haben, um mich möglichst schnell wieder loszuwerden. Aber es interessiert mich nicht, was sie sagen – Anne lebt! Und wehe, du willst mich jetzt auch davon überzeugen, sie aufzugeben.« Sie funkelte Emily angriffslustig an. So aufgebracht war Sophie bisher noch nie gewesen.
»Keine Sorge, das habe ich nicht vor. Ich glaube dir. Warum sollte ich auch nicht? Du wirst schon deine Gründe haben.«
Es ist ein Wunder, was die richtigen Worte bewirken können. Sofort war der Zorn aus Sophies Zügen
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