Herbstbringer (German Edition)
verfolgen.
»Wirklich?«, fragte sie beinahe ungläubig und blinzelte ihre Schwester an. Emily nickte. Urplötzlich fand sie sich in einer stürmischen Umarmung wieder, nach dessen Ende Sophie wieder ganz die Alte war. »Du wirst sehr bald merken, dass mir eigentlich niemand glaubt. An der Schule halten mich viele für nicht ganz dicht, nur weil ich der Polizei nicht glaube. Aber auch das ist mir egal, wirklich viele Freunde hatte ich sowieso noch nie. Der Einzige, der mir glaubt, ist Jake. Und jetzt du. Mein Gott, bin ich froh, dass ich auf Jake gehört habe!«
Jake, das wusste Emily bereits, war Sophies bester Freund. Bislang hatte sie nur von ihm gehört. Er verbrachte die Ferien bei seinen Eltern, die vor einigen Jahren in die USA ausgewandert waren und ihn für die verbleibende Schulzeit bei seinem Großvater in Woods End untergebracht hatten.
»Was meinst du?«
»Na, ich hatte anfangs vor, dich zu hassen und dir das Leben zur Hölle zu machen«, plauderte Sophie vergnügt drauflos. Emily runzelte die Stirn. »Für mich warst du nur eine weitere Maßnahme meiner Eltern, um mir meine ›Flausen‹ auszutreiben. Klar vermisse ich Anne, wir waren fast wie Schwestern. Ohne sie habe ich an der Schule nur noch Jake, und auch der ist nicht gerade jemand, der tausend Freunde hat. Außerdem geht er in eine andere Klasse. Trotzdem fand ich es einfach falsch, dass man mir in Form einer Adoptivschwester eine neue Freundin vorsetzt – einfach so, als wäre nie etwas passiert. Meine Eltern sagen zwar, dass sie schon immer ein zweites Kind gewollt haben. Ganz abgenommen habe ich ihnen das aber nicht.«
Das war neu für Emily. Sie ließ das Gesagte sacken. »Und Jake hat dich davon überzeugt, mich nicht sofort zu verdammen?«, fragte sie schließlich.
»Na ja, so in der Art …« Sophie druckste jetzt verlegen herum. »Er sagte, dass ich mit dem Mobbing auf jeden Fall bis nach den Ferien warten soll, damit er von Anfang an dabei sein kann, wenn ich dir das Leben schwermache. Aber ich hab dich sofort gemocht. Glaub mir, das erstaunt mich selbst am meisten. Wie hast du es nur angestellt, mich so schnell um den Finger zu wickeln? Mann, Jake wird ganz schön enttäuscht sein!«
Sie lachten beide. Ein Knoten war geplatzt. Und nun rückten wieder die alltäglichen Probleme ins Sichtfeld. Wie würde Emily in der Schule angenommen werden? Wenn man Sophies Erzählungen glaubte, schien es ziemlich schwer zu sein, Freunde zu finden. Obwohl Emily noch immer nicht verstanden hatte, warum Sophie so viel daran lag.
Und dann die Sache mit den Jungs. Es schien ein richtiges Regelwerk darüber zu geben, welchen Jungen man süß, welchen cool und welchen man lächerlich finden durfte. Und Sophie hatte es allem Anschein nach komplett auswendig gelernt. Mit der Genauigkeit einer Professorin für angewandte Jungenkunde referierte sie über diesen und jenen Kerl und wog Klamottenstil und Musikgeschmack gegeneinander ab.
»Du und Jake … habt ihr euch schon mal …«, begann Emily nach Sophies Nachhilfestunde.
»Neiiiiiin«, quiekte Sophie, »doch nicht mit Jake!«
»Ich dachte, ihr versteht euch so gut?«
»Ja, wir kennen uns schon ziemlich lange. Aber genau deshalb könnte ich mir nie vorstellen … na, du weißt schon.« Sie machte eindeutige schmatzende Geräusche mit ihren Lippen und bewegte sich mit geschlossenen Augen auf Emily zu. Diesmal quiekte Emily.
»Da fällt mir ein: Jake ist noch zu haben. Vielleicht gefällt er dir ja«, sagte sie kichernd. »Er hält auch nicht viel vom Reden und hat oft einen ähnlichen Blick drauf wie du.«
»Was denn für einen Blick?«, fragte Emily verwundert.
»Na, du weißt schon … dieser gedankenverlorene Blick, den ich schon oft bei dir beobachtet habe. Obwohl der bei Jake längst nicht so überzeugend ist wie bei dir. Hey, darauf wollte ich doch gar nicht hinaus. Du willst ablenken, hm? Ich bin jedenfalls gespannt, was Jake zu dir sagt. Könnte mir vorstellen, du gefällst ihm ziemlich gut.«
Emily war das Thema unangenehm. Was hauptsächlich daran lag, dass sie sich schrecklich unerfahren und zurückgeblieben fühlte. Im Waisenhaus hatte es nie einen Jungen gegeben, den sie interessant oder gar süß gefunden hatte. Nicht, dass Sophie viele Erfahrungen mit Jungs vorzuweisen hatte. Aber sie war immerhin bestens vorbereitet.
Es klopfte. »Genug geplaudert, Mädchen«, verkündete ihr Vater und steckte den Kopf zur Tür herein. »Ab ins Bett mit euch, morgen geht der Ernst des Lebens
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