Herbstbringer (German Edition)
trüber Nebel ohne erkennbare Formen.
Man gab ihr den Namen Emily, lobte ihre dunkle Haarpracht und schätzte sie auf dreizehn oder vierzehn Jahre. Dann steckte man sie zu den anderen auf ein Zimmer.
Intensive Nachforschungen nach Eltern und Verwandten blieben ergebnislos, nie war eine Vermisstenanzeige bei der Polizei oder in den Medien aufgetaucht. Ärztliche Untersuchungen bescheinigten dem Mädchen eine gute Gesundheit und stellten keinerlei Verletzungen fest, was auch die Polizei bald das Interesse verlieren ließ.
Ihre Gedächtnislücken blieben ungeklärt. Die Heimleitung stand vor einem Rätsel: Das bildhübsche Mädchen mit den seltsam weisen Augen und der verschlossenen Art schien geradewegs aus dem Nichts aufgetaucht zu sein.
Ihr war es einerlei, wie sie hieß oder was man über sie dachte; sie wollte bloß in Ruhe gelassen werden und hatte sich von Anfang an in die spärliche Bücherauswahl der Bibliothek vertieft. Vom ersten Tag an hatte man ihr mehr Freiheiten als den anderen Waisen gestattet, ließ sie ihre einsamen Spaziergänge machen und die Nächte durchlesen. Überdeutlich war das Besondere an diesem Mädchen ohne Vergangenheit zu spüren.
Gleichaltrige gab es kaum unter den Waisen, seltene Freundschaften zu besonders aufgeweckten Jüngeren wurden durch Adoptionen vorschnell beendet. Bereits nach wenigen Wochen hatte sie die hoffnungslose Realität des Waisenhauses durchschaut. Wie in einem Tierheim, das glückliche Besucher beinahe ausschließlich mit entzückenden Welpen oder niedlichen Katzenbabys verlassen, verkamen die älteren Insassen unvermeidlich zu Ladenhütern. Emily hatte sich schnell damit abgefunden. Was wäre ihr auch anderes übrig geblieben? Das Sheltering Tree war die einzige Heimat, die sie je gekannt hatte. Es gab ihr ein Bett und Essen, und zudem durfte sie sogar einmal in der Woche die deutlich besser sortierte Stadtbibliothek besuchen. Mehr brauchte sie nicht. Aber wie sollte sie auch: Sie hatte nie mehr gekannt.
Umso überraschender war es für sie, eines Tages in das Büro des Heimleiters Abtree gerufen zu werden. Immerhin wurde man nur zu ihm bestellt, wenn man etwas ausgefressen hatte oder in Kürze adoptiert werden würde. Da Emily noch nie etwas angestellt und den Gedanken an ihre Adoption längst aufgegeben hatte, betrat sie an diesem verregneten Dienstagvormittag zum ersten Mal jenen Raum, in dem schon für so viele Kinder ein neues Leben begonnen hatte.
Aufgeregt und gegen jede Vernunft hoffend stand sie Mr Abtree gegenüber. Alle Waisen hatten ein bisschen Angst vor dem großen Mann mit dem weißen Haar, der immer streng dreinblickte und penetrant nach Schuhcreme roch. Auch jetzt musterte er Emily durchdringend über die Ränder seiner Brille hinweg. Im Gegensatz zu den anderen Kindern empfand sie jedoch keine Furcht vor ihm. Sie wusste, dass er niemandem lange böse sein konnte. Woher sie dieses Wissen nahm, konnte sie nicht sagen. Sie wusste es, seit sie ihm das erste Mal in die Augen geblickt hatte. Und sie hatte gelernt, ihrem Instinkt zu vertrauen.
»Emily, meine Liebe, wie lange bist du jetzt bei uns?«
»Das kann ich nicht genau sagen«, antwortete sie leise. »Aber ich war gestern zum nunmehr dreiundneunzigsten Mal in der Stadtbibliothek.«
Leonard Abtree schmunzelte. Wo dieses Mädchen manchmal seine polierte Ausdrucksweise hernahm, war ihm schleierhaft. Eine unter seinen Mitarbeitern zirkulierende Theorie war, dass ihre gepflegte Sprache und ihr Wissensdurst auf ein reiches Elternhaus hindeuteten. Nicht zuletzt deswegen gab man ihr diesen Namen, als man sich dazu entschlossen hatte, das Mädchen aufzunehmen.
Emily. Die Eifrige.
Abtree glaubte nicht daran. Er sah in Emily eher eine Art weiblichen Mowgli aus dem Dschungelbuch , für die viele Dinge der modernen Zivilisation ein großes Mysterium waren. Dennoch machten ihr Lesen, Schreiben und diverse Fremdsprachen keinerlei Schwierigkeiten.
»Ganz recht, es sind bald zwei Jahre. Für ein junges Mädchen ohne Kontakt zu Gleichaltrigen muss sich das furchtbar lange anfühlen. Fast wie eine Ewigkeit …«
Etwas durchfuhr sie bei diesen Worten. Ihr wurde abwechselnd heiß und kalt, und für einen flüchtigen Moment fühlte sie sich älter, stärker, überlegener. Dann war es vorbei.
Wieder wurde sie gemustert, diesmal mit einem fragenden Ausdruck. Hatte sie am Ende doch etwas ausgefressen?
»Aber was rede ich denn so lange um den heißen Brei herum?«, sagte er lächelnd und öffnete die Tür.
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