Herbstvergessene
schloss die Augen, öffnete sie wieder. Erna war immer noch da, jetzt lächelte sie leicht.
»Das war alles ein bisserl viel«, sagte sie. Und als ich nichts erwiderte, redete sie weiter und ihre Stimme bekam dabei einen gerührten Unterton: »Sie schaut doch recht friedlich aus, man könnt grad meinen, sie schliefe.«
Ich blinzelte erneut und versuchte mich an alles zu erinnern, und dann wunderte ich mich: »Haben Sie sie denn auch gesehen?«
»Ja, als Sie umgefallen sind und die Herren die Tür geöffnet haben, um einen Arzt zu holen, da bin ich halt doch zu Ihnen rein. Da musst ich sie ja anschauen.«
»Wo ist …?«
»… der Polizist?«
Ich nickte.
»Er hat mir«, sie zog etwas aus ihrer braunen Kunstledertasche, »das hier gegeben. Sie sollen sich bei ihm melden. Wegen der Formalitäten.«
Der Begriff hallte in meinem Kopf wider und mit ihm kam das dumpfe Gefühl, möglicherweise etwas zu übersehen. Als Erstes musste ich Wolf anrufen, nein, halt, als Erstes musste ich ein Hotel finden oder eher im
Hotel Kugel
noch ein paar Nächte reservieren. Da hörte ich Ernas Stimme und sah Ernas Mund, der über mir auftauchte: »Wenn ich Ihnen helfen kann, bei den Erledigungen … und«, sie druckste herum, »wollen Sie nicht bei mir Quartier nehmen die Tage? In der Wohnung Ihrer Mutter möchten Sie vielleicht erst mal nicht …« Sie verstummte. Ich nickte lahm oder glaubte es vielleicht auch nur zu tun; jedenfalls fuhr sie fort, mich zu überreden. »Und in so einem Hotel, da kann man sich doch nicht mal einen Kaffee kochen. Außerdem fänd ich’s schön, ein bisserl Gesellschaft zu haben, gerade jetzt.«
Auf einmal wurde mir die Müdigkeit, die schier übermächtige Mattigkeit, die meinen ganzen Körper lähmte, bewusst.Warum konnte ich nicht einfach hier liegen bleiben? Ich erinnerte mich an die Male, als ich im Krankenhaus gewesen war, das eine Mal wegen einer Angina, das andere Mal wegen eines gebrochenen Beins, und es waren nicht unbedingt schlechte Erinnerungen, die da aufstiegen. Hier konnte ich schlafen, einfach immer schlafen, im Bett essen, wieder schlafen, man würde sich um mich kümmern. Und vielleicht würde dann alles vergehen, von selbst vergehen. Kurze Zeit überließ ich mich ganz dieser süßen Vorstellung, dann drang wieder eine Stimme von extern in mein Bewusstsein, eine Stimme, die eine hauptberufliche und routinierte Munterkeit ausstrahlte. Ich spürte Finger an meinem Handgelenk, die Finger zur Stimme fühlten meinen Puls. Ich hoffte, er möge recht schwach und besorgniserregend sein, dann hörte ich Erna Buchholtz in meine Hoffnung hineinsprechen.
»Wie ist es?«, fragte sie und die Munterkeitsstimme antwortete: »Na, ein bisserl wacklig ist sie schon noch. Am besten, Sie stecken sie für den Rest des Tages ins Bett. Ruhe ist jetzt gut für sie.«
Und so fand ich mich ein paar Stunden später in Erna Buchholtz’ Gästebett wieder, trank starken und süßen Tee mit Sahne und aß Butterbrote. Erna saß auf einem Stuhl neben mir und sah mir beim Kauen zu. Ich wunderte mich über nichts mehr, weder über Erna Buchholtz’ Fürsorglichkeit noch über meine Fügsamkeit oder den Heißhunger, der mich überfallen hatte, sondern betrachtete die Katzensammlung, die das Zimmer füllte. Da gab es Katzen aus Stoff, Ton, Porzellan, mit Perlen beklebte und hölzerne, sogar eine Gießkanne, deren Schwanz sich zu einem Haltegriff rollte und aus deren Mund das Wasser kam.
»Haben Sie eine Katze?«, fragte ich.
Erna Buchholtz lachte. »Reichen die nicht?«
»Na ja, ich meine halt eine richtige.«
»Früher hatte ich einen, den Katerl, aber er ist von heut aufmorgen nicht mehr gekommen. Und jetzt füttere ich hin und wieder die Nachbarskatze. Die Wohnung hier wäre eigentlich ideal für ein Haustier. Für eine Großstadtwohnung, meine ich. Wer hat schon so einen Garten wie ich? Morgen zeig ich Ihnen den mal.«
Ich nickte und kaute, trank Tee und dann fiel mir ein, dass meine Mutter in diesem Garten oder jedenfalls direkt daneben den Tod gefunden hatte. Das Butterbrot wurde zu einem harten Kloß in meinem Hals, ich drängte die Tränen zurück, aber es half nichts, sie begannen zu laufen, meine Wangen hinunter, und der trockene Kloß steckte in meiner Kehle fest. Ich schluckte. Erna reichte mir ein Taschentuch, das sie aus ihrer Schürze zog, und plötzlich brach es aus mir heraus: »Ich glaube es nicht. Ich glaube nicht, dass sie da runtergesprungen ist. Das glaube ich
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