Hermann Hesse: Das Leben des Glasperlenspielers (German Edition)
durchnässt, die Hände klamm. In Wildschweinkuhlen leuchten vereiste Schneereste, herabgestürzte Äste und von Blitzeinschlägen ausgeglühte Baumruinen verstellen ihm den Weg.
Da fällt ihm ein, dass er diese winterlich-düstere Szenerie ja längst vorweggenommen hat in einem Gedicht, das ihm jetzt zu beweisen scheint, wie sehr es seine Berufung ist, Dichter zu sein und damit über die Gabe zu verfügen, der harten Realität auf den Flügeln der Poesie zu entkommen:
Ich bin in den Wald gegangen
Und habe lange geweint,
das Herz voll Weh und Verlangen,
Und einsam und ohne Freund.
Die Blätter haben gewimmert,
Der Sturmwind hat laut getost,
Ein einsamer Stern hat geschimmert –
Und das war mein ganzer Trost. 3
Über die Straße nach Freudenstein gelangt Hesse wieder aufs freie Feld, an eine ausgedehnte, sanft ansteigende Lichtung, die auf den quer gelagerten Schulberg zuführt. Im Südwesten wird sie vom Höhenzug des Köbler zum Kloster hin abgeschlossen. Nun atmet er freiere Luft und marschiert wieder auf offenem Feld und in der hellen Sonne hoch zum Kamm des Scheuelbergs, rasch an einem einsamen Gehöft vorbei, um an der froschgrünen Mütze nicht als entlaufener Seminarist erkannt zu werden. Dann senkt sich der Waldweg wieder hinab ins Tal, Diefenbach lässt er rechts liegen und stolpert in der Dämmerung durch eine feuchte Tannenschonung, aus der gespenstisch das hohle Klopfen eines Spechts ertönt. Aus einem nahen Gehöft dringt bedrohliches Hundegebell – nur weiter, weiter.
Natürlich weiß er, dass diese Flucht irgendwann enden, dass auch ein Taugenichts irgendwo ankommen muss, wenn sein romantischer Ausbruch einen höheren Sinn haben soll. Doch der Sinn steckt nicht im Ziel, sondern im Aufbruch, nicht im Durchbrechen der Ordnung, sondern im Erzwingen des Eigenen. Das Eigene liegt für Hermann Hesse begraben unter all dem Wissen, das er im Seminar anhäufen muss, auch wenn er anfänglich von der Ernsthaftigkeit der Lehrenden begeistert war, die den Klosterzöglingen 41 Wochenstunden Unterricht auferlegen. Zusätzlich zu den schulischen Übungen in Metrik und Versgeschichte hat Hermann sich selbst ein Extrapensum auferlegt und das Handbuch der deutschen Prosa studiert, um sein Stilgefühl zu entwickeln. Doch Freunden gegenüber klagt er, im Griechischunterricht lese man Homer, als sei die Odyssee ein Kochbuch: »Zwei Verse in der Stunde, und dann wird Wort für Wort wiedergekäut, ekelhaft!« Wenn einer griechisch zu leben, wie die Griechen zu dichten versuche, werde er rausgeschmissen. Einen Aufsatz erhielt er zurück mit der kritischen Bemerkung: »Sie besitzen Phantasie!!« 4 Das kannte Hermann ja schon aus Calw: Die Dichter werden von den Philistern hoch verehrt, ihre Werke gelesen und in den Bibliotheken aufgestellt, aber die eigenen Söhne dürfen auf gar keinen Fall den künstlerischen Weg einschlagen, sie sollen glaubensstarke Pfarrer, erfolgreiche Geschäftsleute oder tüchtige Beamte werden. Dichter, so die bürgerliche Vorstellung, kann man nicht werden, Dichter i s t man. Eine Ausbildung zum Dichter gibt es nicht, leider, das weiß er jetzt, auch nicht in einer so den Musen geweihten Bildungsanstalt wie dem Maulbronner Seminar, wo man sich unablässig mit Cicero, Homer, Livius, Ovid und Xenophon beschäftigt. Hermann kennt die Folgen solch einer Künstler-Anmaßung aus der eigenen Familie, denn sein Bruder Theodor wollte Opernsänger werden und brach dafür seine Apothekerlehre ab – am Ende kehrte er als gescheiterter Künstler reumütig zur Pharmazie zurück.
Er, Hermann Hesse, wird nirgendwohin reumütig zurückkehren! Seine Freiheitsliebe ist nicht nur durch die Lektüre von Schillers Dramen befeuert, die er geradezu schwärmerisch verehrt und deshalb immer wieder liest, sondern sie steckt tief in ihm, sie ist der innerste Kern seines Wesens. Die Rücksichtslosigkeit und Sturheit, mit der er seinen Eigen-Sinn durchsetzt, ist für alle, die mit ihm zu tun haben, eine ständige Herausforderung. Hermann weiß das, spürt aber, dass er gar nicht anders kann, auch wenn er, besonders gegenüber seinen Eltern, ein schlechtes Gewissen dabei empfindet und es immer auch den anderen recht machen will. Liebe und Freundschaft sind die einzigen Gefühle, die seinen unbändigen Durchsetzungswillen beschränken.
Als Hermann den stillen Weinort Sternenfels passiert, über dessen Rebhängen ein steinerner Wehrturm in den verblassenden Himmel ragt, kehren seine Gedanken zu den Kameraden der Stube
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