Hermann Hesse: Das Leben des Glasperlenspielers (German Edition)
Erinnerung an diese Vision lässt Hermann die Kälte vergessen, die langsam unter seine dünne Jacke kriecht. Er wandert bis in den späten Abend hinein, um in Bewegung zu bleiben, im Zickzack wie ein flüchtender Hase am Fuß des Strombergs entlang und im Schutz der Wälder, jede Begegnung mit Menschen meidend, bis er die Gemarkung von Kürnbach erreicht. Hier, in dem hessisch-badischen Ort, der ein kleines Schloss, ein stattliches Rathaus und mehrere Wirtshäuser besitzt, will er Rast machen, denn nun liegt Maulbronn bereits zwanzig Kilometer hinter ihm. Hermann verspürt großen Appetit auf Schweinebraten und Kartoffeln und würde sich auch gern einen Krug badischen Weins gönnen. Aber er hat nur ein paar Münzen dabei, die gerade für eine Metzelsuppe und einen Schoppen Bier reichen, die ihm die Wirtin mit misstrauischem Blick serviert. Übernachten könne er hier nicht, meint die unfreundliche Alte. So beschließt er, dieses Dorf rasch wieder zu verlassen.
An einem Bachlauf zwischen Kürnbach und Derdingen entdeckt er einen Strohhaufen, in den er hineinkriecht, um sich vor der feuchten Kälte zu schützen. Das knisternde Stroh, das Murmeln des Baches und der wie ein Schirm über ihm aufgespannte, in winterlicher Klarheit funkelnde Himmel lassen ihm seine Lage jetzt gar nicht mehr so unangenehm erscheinen, auch wenn er lieber im Wirtshaus säße bei einem Glas Wein und mit einem Buch in der Hand. Vor allem vermisst er seine Geige, seine treueste Gefährtin und Seelentrösterin, die ihn niemals im Stich lässt. Der schönste Ort für sein einsames Spiel ist der Rasen vor der klösterlichen Brunnenkapelle, da mischen sich die Geigentöne mit dem Plätschern des Wassers und dem Summen der Insekten, die aus den Hecken aufsteigen. Das Kloster, das ihm zuerst düster und abweisend erschienen war, entfaltete, je länger er dort war und je mehr er sich mit seinen Räumen und Winkeln vertraut machte, seinen ganzen Zauber. Nur dort, nicht in den enervierenden Bibelstunden spürt er, was eigentlich Religion bedeutet, dieses aus Ehrfurcht und Staunen gemischte Gefühl einer Bindung, die von etwas Umfassendem, die eigene Existenz Einschließendem hervorgerufen wird, auch wenn dieses Größere sich ihm immer wieder entzieht, wenn er sich eine genauere Vorstellung davon zu machen versucht. Im schulmäßigen Christentum findet er keinen Zugang zu dem, was ihn umtreibt, Bibelkritik empfindet er wie ein ätzendes Bleichmittel, das die Farbe aus den Bildern wäscht, die er sich von Jesus von Nazareth und seiner Welt gemacht hat. Ähnlich ergeht es ihm mit dem, was er die »Pietisterei« nennt, die ungeheure moralische Verschärfung des Religiösen, die den Menschen klein macht und ihn unter die »Pflichten« presst, die ein Christenmensch täglich zu erfüllen hat. Das hatte er zwar in seinem Calwer Elternhaus als nicht so niederdrückend empfunden, weil im Missionsverlag des Vaters ein weltbürgerlicher Geist herrscht, der die christliche Vorstellungswelt mit den Kulturen der missionierten Völker in China, Japan und Indien konfrontiert und den praktizierten Glauben damit beweglicher, geschmeidiger und am Ende auch maßvoller und toleranter macht. Doch die Rigorosität, mit der sein Vater das »Gute« in ihn, Hermann, hineinzuzüchten und das »Böse« zu eliminieren sucht, ruft in ihm das Gefühl hervor, nur ein halber Mensch sein zu dürfen, den seine doch auch von Gott gegebenen Triebe unrein machen, obwohl er ihnen viel, ja alles verdankt, die Lust an der Kunst nämlich, die das Helle und Dunkle, das Schöne und das Hässliche nach ihren ganz eigenen Gesetzen in sich vereint.
Als Kind hatte er seine Mutter einmal treuherzig und über sich selbst ein wenig erschrocken gefragt: »Gelt, ich singe so schön wie die Sirenen und bin auch so böse wie sie?« 5 Wer ein Dichter sein wollte, der kann sich mit der amputierten bürgerlichen Welt nicht anfreunden, in der regelmäßig die Pflicht über die Neigung, die Moral über das Kunstwerk gestellt wird. Und ist nicht das Kloster selbst, mit seinem großartig-schlichten Kirchenschiff, dem kunstvoll geschnitzten Chorgestühl und dem aus einem einzigen Sandsteinblock gehauenen Kruzifix der beste Beweis dafür, dass am Ende die Kunst über die Askese siegt, wie sie sich die Erbauer der Anlage, die Zisterzienser, auferlegt hatten? Man musste nur durch die Gewölbe streifen, um zu sehen, welcher Reichtum an Blättern, Trauben, Rosen und Tierköpfen aus dem Stein der Kapitelle, Konsolen
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