Herr der Daemmerung
Herz.
Es war mehr als ein Jahr vergangen, seit sie der Nachtwelt den Rücken gekehrt hatte, um sich auf die Suche nach diesen Leuten zu machen, den Verwandten ihrer Mutter. Und elfeinhalb Monate war es her, seit Onkel Jim sie aufgenommen hatte, ohne irgendetwas anderes über sie zu wissen, als dass sie seine verwaiste Nichte war und dass die Familie ihres Vaters nicht mehr mit ihr fertig wurde und sie aufgegeben hatte. In all diesen Monaten hatte sie zusammen mit Familie Goddard gelebt - und sie hatte sich immer noch nicht eingefügt.
Sie konnte menschlich aussehen, sie konnte sich menschlich benehmen, aber sie konnte kein Mensch sein.
Gerade als Onkel Jim schluckte und den Mund frei bekam, um das Wort an sie zu richten, sagte sie: »Ich habe keinen Hunger. Ich denke, ich werde einfach meine Hausaufgaben machen.«
»Warte einen Moment«, rief Onkel Jim ihr nach, aber es war Claire, die ihre Serviette auf den Tisch knallte und Jez tatsächlich durch den Flur auf die andere Seite des Hauses folgte.
»Wie- meinst -du das: >Tut mir leid Du machst das jeden Tag. Du verschwindest ständig, bleibst oft bis nach Mitternacht draußen, und dann hast du nicht einmal eine Erklärung.«
»Ja, ich weiß, Claire«, antwortete Jez, ohne sich umzudrehen. »Ich werde versuchen, mich zu bessern.«
»Das sagst du jedes Mal. Und jedes Mal ist es genau dasselbe. Begreifst du denn nicht, dass meine Eltern sich um dich Sorgen machen? Ist dir das völlig egal?«
»Nein, es ist mir nicht egal, Claire.«
»Du benimmst dich aber so. Du benimmst dich, als würden Regeln für dich nicht gelten. Du entschuldigst dich zwar, aber dann machst du es einfach wieder.«
Jez musste sich beherrschen, um sich nicht umzudrehen und ihre Cousine anzublaffen. Alle anderen Mitglieder der Familie mochte sie wirklich, aber Claire war eine Nervensäge.
Schlimmer noch, sie war eine scharfsinnige Nervensäge. Und sie hatte recht; Jez würde es wieder tun, und auf keinen Fall konnte sie irgendetwas erklären.
Vampirjäger mussten ihre Arbeit eben zu den merkwürdigsten Zeiten erledigen.
Wenn man einer mörderischen Bande von Vampiren und Gestaltwandlern auf der Spur war, so wie Jez an diesem Abend, und wenn man sie durch die Slums von Oakland jagte und versuchte, sie in irgendeinem baufälligen Haus zusammenzutreiben, wo keine kleinen Kinder lebten, die dabei zu Schaden kommen konnten, dachte man nicht darüber nach, dass man das Abendessen verpasste. Man hörte nicht mittendrin auf, wenn man Untote pfählte, um zu Hause anzurufen.
Vielleicht hätte ich keine Vampirjägerin werden sollen, dachte Jez. Aber jetzt ist es ein wenig zu spät, um daran noch etwas zu ändern. Und irgendjemand muss schließlich diese dummen - diese unschuldigen Menschen vor der Nachtwelt beschützen.
Oh, hm.
Sie hatte die Tür zu ihrem Zimmer erreicht. Statt ihre Cousine anzubrüllen, drehte sie sich lediglich halb um und fragte: »Warum gehst du nicht einfach und arbeitest an deiner Webseite, Claire?« Dann öffnete sie die Tür.
Und erstarrte.
In ihrem Zimmer, das sie in militärischer Ordnung verlassen hatte, herrschte absolutes Chaos. Das Fenster stand weit offen. Papiere und Kleider lagen auf dem Boden verstreut. Und am Fußende des Bettes stand ein sehr großer Ghoul.
Der Ghoul öffnete den Mund und sah Jez drohend an.
»Oh, sehr witzig«, sagte Claire gerade, direkt hinter ihr. »Vielleicht sollte ich dir bei deinen Hausaufgaben helfen. Wie ich höre, bist du in Chemie nicht besonders gut...«
Jez bewegte sich schnell, trat geschickt durch die Tür und schlug sie Claire vor der Nase zu. Dann drehte sie den kleinen Knauf, um sie zu verschließen.
»Hey!« Jetzt klang Claire wirklich wütend. »Das ist unhöflich!«
»Ähm, tut mir leid, Claire!« Jez drehte sich zu dem Ghoul um. Was machte er hier? Wenn er ihr nach Hause gefolgt war, steckte sie böse in der Klemme. Das bedeutete, dass die Nachtwelt wusste, wo sie war. »Weißt du, Claire, ich denke, ich muss wirklich für ein Weilchen allein sein - ich kann nicht reden und meine Hausaufgaben machen.« Sie trat einen Schritt auf die Kreatur zu und beobachtete ihre Reaktion.
Ghoule waren Halbvampire. Sie waren das, was aus einem leergetrunkenen Menschen wurde, der im Gegenzug nicht genug Vampirblut bekam, um ein wahrer Vampir zu werden. Sie waren untot, aber sie verwesten. Sie hatten nur sehr wenig Verstand und waren von einer einzigen Idee besessen: so viel wie möglich von einem menschlichen Körper zu essen.
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