Herr des Chaos
ihnen sah. Dieser Prozeß war vielleicht langsamer, als sie durch inneren Zwang umzuerziehen, aber er bereitete ihr unendlich mehr Genuß, und sie glaubte nicht, daß selbst Graendal wiederherstellen konnte, was sie zerstört hatte. Die Stränge, mit denen man den inneren Zwang erzeugte, konnte man auflösen. Aber ihre Patienten... Auf den Knien hatten sie sie angebettelt, ihre Seelen dem Schatten zu geben, und sie hatte ihrem Wunsch folgsam entsprochen, bis sie gestorben waren. Jedesmal war Demandred des Lobes voll gewesen, weil wieder ein anderer Ratgeber des Saales sich öffentlich zum Großen Herrn bekannt hatte, aber für sie war das Schönste immer der Moment gewesen, in dem ihre Gesichter erbleichten, sogar noch Jahre später, wenn sie ihrer gewahr wurden, und wenn sie sich beinahe überschlugen, um ihr zu versichern, daß sie treu zu dem standen, was sie aus ihnen gemacht hatte.
Das erste Schluchzen entrang sich der hilflos in der Luft hängenden Frau und wurde sofort unterdrückt. Semirhage wartete tatenlos. Es mochte wohl in dieser Situation Eile angebracht sein, doch zuviel Eile würde ihr alles verderben. Die Patientin schluchzte nun wieder und wieder. Ihre Bemühungen, das zu unterdrücken, hatten keinen Erfolg mehr. Es wurde lauter, lauter, und schwoll schließlich zu einem Heulen an. Semirhage wartete ab. Die Frau glänzte vor Schweiß. Sie warf den Kopf von einer Seite auf die andere. Ihr Haar flog. Sie zuckte hilflos und verkrampft in ihren unsichtbaren Fesseln. Ohrenbetäubende Schreie aus vollem Hals hielten an, bis sie um Luft ringen mußte, und sie begannen erneut, sobald ihre Lunge wieder gefüllt war. Diese weit auf gerissenen, hervorquellenden blauen Augen sahen nichts. Sie wirkten bereits glasig. Nun fing es an.
Semirhage unterbrach abrupt ihre Stränge von Saidar, aber es dauerte doch Minuten, bis die Schreie sich beruhigten und lediglich noch schweres Atmen zu hören war. »Wie heißt Ihr?« fragte sie sanft. Die Frage spielte an sich keine Rolle, nur mußte es eine sein, die von der Frau auch beantwortet wurde. Sie härte auch fragen können: »Wollt Ihr mir immer noch widerstehen?« Es war oft recht vergnüglich, gerade mit dieser Frage fortzufahren, bis sie darum bettelten, beweisen zu dürfen, daß sie ihr nun willfährig seien. Doch diesmal zählte tatsächlich jede einzelne Frage.
Ein unfreiwilliges Schaudern nach dem anderen durchlief den Körper der in der Luft hängenden Frau. Sie warf Semirhage einen mißtrauischen Blick aus zusammengekniffenen Augen zu, leckte sich die Lippen, hustete und stieß schließlich heiser hervor: »Cabriana Mecandes.«
Semirhage lächelte. »Es ist gut wenn Ihr mir die Wahrheit sagt.« Es gab Schmerzzentren im Gehirn, aber auch Zentren des Wohlbefindens. Sie reizte eines der letzteren, nur ein paar Augenblicke lang, aber sehr energisch, während sie näher herantrat. Der Schock ließ Cabriana die Augen soweit aufreißen, wie sie nur konnte. Sie schnappte nach Luft und zitterte. Semirhage zog ein Taschentuch aus ihrem Ärmel, hob das staunende Gesicht der Frau mit einem Finger unter dem Kinn an und tupfte zart den Schweiß weg. »Ich weiß, daß dies sehr schwer für Euch ist, Cabriana«, sagte sie mit warmer Stimme, »und deshalb müßt Ihr euch Mühe geben, um es mir nicht noch schwerer zu machen.« Mit einer sanften Berührung wischte sie eine feuchte Haarsträhne aus der Stirn der Frau. »Hättet Ihr gern etwas zu trinken?« Sie wartete nicht erst auf eine Antwort, sondern gebrauchte die Macht, und eine verbeulte Metallflasche schwebte von dem kleinen Tisch in der Ecke hoch und direkt in ihre Hand. Die Aes Sedai wandte den Blick nicht von Semirhage, aber sie trank gierig. Nach ein paar Schlucken nahm Semirhage die Flasche weg und ließ sie auf den Tisch zurückschweben. »Ja, das ist besser, nicht wahr? Denkt daran, macht es Euch nicht selbst zu schwer.« Als sie sich abwandte, sprach die Frau wieder mit rauher Stimme: »Ich spucke in die Milch Eurer Mutter, Schattenanbeterin! Hört Ihr mich? Ich...«
Semirhage hörte nicht mehr hin. Zu jeder anderen Zeit hätte das ein warmes, angenehmes Gefühl in ihr ausgelöst, weil sie nun wußte, daß der Widerstand der Patientin noch nicht ganz gebrochen war. Die reinste, erhebendste Freude bereitete es ihr, wenn sie Trotz und Würde in ganz hauchdünnen Scheibchen abschneiden konnte, und dann zu beobachten, wie dies dem Patienten bewußt wurde und er oder sie verzweifelt und umsonst versuchte, sich noch
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