Herr, erbarme dich! - Corin, J: Herr, erbarme dich!
nuschelte sie.
„Es hat einen Mord in Albany gegeben“, sagte Karl Ziegler. Entgegen ihrer Abmachung – oder vielleicht gerade deswegen, als ein letzter Scherz, bevor er seine sterbliche Hülle abstreifte – hatte Trumbull ausgerechnet Ziegler als ihren Vorgesetzten bestimmt, bis Tom wieder den aktiven Dienst antrat. „Sie müssen ins Büro kommen.“
„Tante Harriet, bist du das?“
„Das ist nicht witzig, Mrs Stuart! Eine junge Frau wurde auf ihrem Heimweg von der Arbeit mit sechsundvierzig Messerstichen ermordet. Ihre Wunden stimmen mit denen von drei weiteren Opfern in der Metro-Area von Albany überein.“
„Albany hat eine Metro-Area?“
„Wann können Sie hier sein? Um sechs? Viertel nach sechs?“
Jetzt musste sie ein Auge öffnen. Verdammter Karl Ziegler. Sie blickte auf die Anzeige ihres Digitalweckers.
„Halb sieben“, sagte sie. „Zum ersten, zum zweiten und … zum dritten.“
Sie legte auf. Am liebsten wäre sie sofort wieder eingeschlafen, riss sich aber zusammen und kletterte aus dem Bett. Nach der kürzesten Dusche der Welt stupste sie Rafe an, bis er wach wurde.
„Ich muss zur Arbeit“, flüsterte sie.
Seit dem Vorfall mit Galileo lief es angenehm zwischen ihnen. Nicht gut, nicht richtig, aber angenehm. Sie hatten eine Menge Probleme, die noch gelöst werden mussten, aber wie so ziemlich jedes moderne Vorstadtehepaar hielten sie diese Probleme zunächst mal unter Verschluss. Eines Tages, bald, würden sie sich ernsthaft unterhalten müssen. Was danach geschah, wusste sie nicht. Sie konnte nur das Beste hoffen, mehr nicht. Zunächst einmal musste es reichen, ihm in den niedlichen Bauch zu piken. Er nickte und schlief weiter.
„Ich liebe dich.“ Sie küsste ihn auf den Mund.
„Ich dich auch“, murmelte er automatisch.
Sie schlüpfte in Jeans und T-Shirt, lief auf den Flur und schaute schnell nach Sophie. Es gab keinen Grund, sie zu wecken, doch sie genoss es, ihrer Tochter einen Moment beim Schlafen zuzusehen. Dieser Anblick gehörte zu den ganz wenigen, die sie mit absolutem … Optimismus erfüllten. Sie machte ein geistiges Foto von ihrer Tochter, wie sie mit Bugs Bunny im Arm zusammengerollt dalag. Dieses Foto würde sie brauchen, um mit dem Schrecklichen zurechtzukommen, das im FBI-Büro in New York City bereits auf sie wartete.
Lester war schon wach, er schaute fern. Der alte Mann schlief nicht wie andere menschliche Wesen. Er nickte immer wieder ein, aber die meiste Zeit saß er hellwach vor dem Fernseher. Sein kurzfristiger Besuch dehnte sich länger und länger aus. Esme hatte bisher nicht protestiert, denn irgendjemand musste auf Sophie aufpassen, wenn Rafe am College war und sie … nun, wenn sie tat, was immer sie tat. Dies hier war ihr erster Fall als „Beraterin“, sie wusste noch nicht, wie die Sache laufen würde. Aber sie war guter Dinge.
„Was hast du denn vor?“, fragte Lester, der sich gerade eine Reportage über Macao ansah. „Joggen gehen?“
„Arbeiten“, entgegnete sie, schnappte sich ein Erdbeertörtchen aus dem Kühlschrank und ihren iPod vom Computertisch.
Die Vorhangstange war – fast schon aus Trotz – noch nicht repariert worden.
„Arbeiten?“ Lester grunzte verächtlich. Sie zeigte ihm den Mittelfinger, als sie an ihm vorbei Richtung Garage ging. Toms Motorrad stand in einer Ecke; sie hatten es schließlich doch noch von Amy Liebs Grundstück geholt. Esme war versucht, damit in die Stadt zu fahren, doch Tom hatte ihr nur wenige Fahrstunden gegeben, und das war schon Jahre her. Sie freute sich auf den Tag, an dem Tom das Motorrad abholte – und der hoffentlich bald kommen würde.
Während sie rückwärts aus der Garage fuhr, stöpselte sie den iPod ans Autoradio. Vielleicht würde es noch ein warmer und sonniger Apriltag werden, doch im Augenblick war der Himmel dunkel, sternenlos und kalt. Esme dachte einen Moment lang über diese Tatsache nach, dann drehte sie die Rolling Stones auf und ließ sich von Mick Jagger die Sorgen vertreiben.
„Ti-i-i-ime is on my side …“
Ja, allerdings.
– ENDE –
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