Herr Palomar
dagegen läßt aus den Nebeln seines inneren Monologes einzelne, nur eben angedeutete Laute aufsteigen, im Vertrauen darauf, daß aus ihnen, wenn nicht die Klarheit einer vollständigen Botschaft, so doch das Zwielicht einer Stimmungslage hervorgeht.
Frau Palomar weigert sich allerdings, sein Gebrumm und Geknurre als Rede anzuerkennen, und um ihr Nichtbetroffensein zu betonen, sagt sie jetzt leise: »Psst, du verscheuchst sie!« – womit sie ihm die Ermahnung zurückgibt, die er glaubte, ihr entgegenhalten zu dürfen, und von neuem ihren Primat in Sachen Aufmerksamkeit für die Amseln bekräftigt.
Nach Verbuchung dieses Punktes zu ihren Gunsten entfernt sich Frau Palomar. Die Amseln picken auf dem Rasen und halten den Dialog der Palomars sicher für ein Äquivalent ihrer Pfiffe. Wir könnten genausogut einfach nur pfeifen – denkt Herr Palomar. Und damit tut sich ihm eine vielversprechende Perspektive auf, denn seit jeher war ihm die Diskrepanz zwischen dem Verhalten des Menschen und dem restlichen Universum eine Quelle tiefer Besorgnis. Die Gleichheit zwischen dem Pfeifen der Amseln und dem Pfeifen der Menschen erscheint ihm auf einmal als ein Brückenschlag über den Abgrund.
Würden die Menschen alles ins Pfeifen legen, was sie normalerweise dem Wort anvertrauen, und würden die Amseln im Pfeifen all das Nichtgesagte ihrer conditio als Naturwesen mitschwingen lassen, so wäre der erste Schritt getan, um die Trennung zu überwinden zwischen … ja, zwischen was? Natur und Kultur? Schweigen und Reden? Herr Palomar hofft immer, daß im Schweigen etwas enthalten sein möge, was mehr ist, als Sprache auszudrücken vermag. Aber wenn Sprache nun wirklich der Endpunkt wäre, das Ziel, zu welchem alles Seiende strebt? Oder wenn alles Seiende Sprache wäre, schon seit Anfang der Zeiten? Hier wird Herrn Palomar wieder ganz bang.
Er lauscht eine Weile sehr aufmerksam auf das Pfeifen der Amseln, dann versucht er es nachzuahmen, so gut er kann. Es folgt ein erstauntes Schweigen, als bedürfe seine Botschaft einer gründlichen Prüfung. Schließlich ertönt ein identisches Pfeifen, von dem Herr Palomar nur nicht weiß, ob es eine Erwiderung ist oder der Beweis, daß sein Pfeifen so grundverschieden ist, daß die Amseln sich überhaupt nicht davon stören lassen und ihren Dialog wieder aufnehmen, als ob nichts gewesen wäre.
Sie fahren fort zu pfeifen und einander erstaunt zu befragen, Herr Palomar und die Amseln.
Der unendliche Rasen
Rings um Herrn Palomars Haus ist ein Rasen. Der Rasen wächst nicht von Natur aus, er ist ein Kunstprodukt, das aus Naturprodukten besteht, nämlich aus Gräsern. Zweck des Rasens ist es, Natur zu repräsentieren, und das geschieht, indem man die örtliche Natur – in diesem Falle an einem Ort, wo von Natur aus nicht einmal Wiesen wären – ersetzt durch eine an sich natürliche, aber an diesem Ort künstliche Natur. Kurzum, es ist teuer. Der Rasen kostet Geld und endlose Mühe: Man muß ihn säen, gießen, düngen, entwesen, mähen.
Der Rasen besteht aus Wiesenrispengras, Lolch und Klee. In dieser Mischung, zu gleichen Teilen, ist er ausgesät worden. Das Rispengras, kleinwüchsig und kriechend, hat bald die Oberhand gewonnen: Sein Teppich aus weichen runden Halmen breitet sich aus, angenehm für den Fuß und das Auge. Die nötige Dichte erhält der Rasen jedoch durch die schmalen Lanzen des Lolches, wenn sie nicht zu dünn sind und man sie nicht zu sehr wachsen läßt, ohne sie regelmäßig zu schneiden. Der Klee sprießt unregelmäßig, hier zwei Büschel, da gar nichts, dort drüben ein ganzes Meer; er wächst üppig, bis er am Ende erschlafft, denn sein propellerförmiger Blattkranz lastet schwer auf dem zarten Stiel und beugt ihn zu Boden. Der Rasenmäher zieht mit ohrenbetäubendem Lärm seine Schneisen, ein leichter Heugeruch liegt in der Luft, das kurzgeschnittene Gras gewinnt die Borstigkeit seiner Kindertage zurück, aber der Biß der Klingen legt Unebenheiten frei, halbkahle Stellen, gelbliche Flecken.
Ein Rasen muß, um als solcher zu gelten, eine gleichmäßig grüne Fläche sein: ein unnatürliches Resultat, das naturgewollte Grasflächen auf natürliche Weise erreichen. Hier aber, wenn man ihn Punkt für Punkt inspiziert, entdeckt man Stellen, die der kreisende Strahl des Rasensprengers nicht erreicht, Stellen, auf die das Wasser in stetem Guß niedergeht, so daß die Wurzeln verfaulen, und Stellen, wo von der adäquaten und gleichmäßigen Bewässerung
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