Herr Palomar
anderen Dimensionen öffnet. Ab und zu wähnt er, sich wenigstens von der Ungeduld befreit zu haben, die ihn sein ganzes Leben hindurch begleitet hatte, wenn er die anderen alles, was sie anpackten, falsch machen sah und wenn er dann dachte, daß er an ihrer Stelle nicht weniger Fehler machen, aber sich immerhin wenigstens darüber Rechenschaf ablegen würde. Indessen: Er hat sich ganz und gar nicht davon befreit, und er begreif nun, daß die Unduldsamkeit gegenüber den eigenen Fehlern und denen der anderen fortdauern wird mit den Fehlern selbst, die kein Tod auslöscht. Also kann man sich auch genauso gut an sie gewöhnen: Tot sein heißt für Herrn Palomar, sich an die Enttäuschung gewöhnen, daß man nun immer derselbe sein wird, in einer Endgültigkeit, die zu ändern man nicht mehr hoffen kann.
Herr Palomar unterschätzt keineswegs die Vorteile, die das Lebendigsein vor dem Totsein haben kann, nicht im Blick auf die Zukunft, wo die Risiken immer groß sind und die Erfolge nur selten von langer Dauer, sondern im Blick auf die Chance, das Bild der eigenen Vergangenheit zu verbessern (es sei denn, man wäre bereits mit der eigenen Vergangenheit vollauf zufrieden, ein Fall von zu geringem Interesse, als daß er sich zu erörtern lohnte). Das Leben eines Menschen besteht aus einer Ansammlung von Ereignissen, deren letztes den Sinn des Ganzen verändern kann, nicht weil es mehr als die früheren zählte, sondern weil die Ereignisse, einmal eingefaßt in ein Leben, sich zu einer Ordnung fügen, die nicht chronologisch ist, sondern einem inneren Bauplan entspricht. Zum Beispiel kann jemand in reifem Alter ein Buch lesen, das für ihn wichtig ist, und dann ausrufen: »Wie konnte ich bisher nur leben, ohne es gelesen zu haben!« oder: »Wie schade, daß ich es nicht schon früher gelesen habe!« Gut, nur sind diese Ausrufe nicht sehr sinnvoll, vor allem der zweite nicht, denn von dem Moment an, da der Betreffende jenes Buch gelesen hat, wird sein Leben zum Leben eines Menschen, der eben jenes Buch gelesen hat, und es spielt kaum eine Rolle, ob er es früh oder spät gelesen hat, denn auch das Leben vor jener Lektüre fügt sich nun unter das Zeichen eben jener Lektüre.
Dies ist der schwierigste Schritt für einen, der lernen will, tot zu sein: sich davon zu überzeugen, daß sein Leben ein abgeschlossenes Ganzes ist, das zur Gänze in der Vergangenheit liegt, so daß er ihm nichts mehr hinzufügen und nichts mehr an ihm verändern kann, nicht einmal durch kleine Umgruppierungen seiner Bestandteile. Gewiß können jene, die weiterleben, aufgrund der von ihnen erlebten Veränderungen gelegentlich auch das Leben der Toten verändern, indem sie formen, was keine Form hatte, oder umformen, was eine andere Form zu haben schien; zum Beispiel indem sie einen, der zu Lebzeiten seiner widergesetzlichen Taten wegen geschmäht worden war, als gerechten Rebellen anerkennen, oder indem sie einem, der sich als Neurotiker oder Verrückter abgetan sah, als großen Dichter oder Propheten feiern. Aber das sind Veränderungen, die hauptsächlich für die Lebenden zählen. Die Toten haben nicht viel davon. Jeder ist ein Produkt seines Lebens und der Art, wie er sein Leben gelebt hat, und die kann ihm keiner nehmen. Wer sein Leben leidend gelebt hat, bleibt ein Produkt seines Leidens, und wenn sie sich anmaßen, ihm das zu nehmen, ist er nicht mehr er selbst.
Deswegen macht sich Herr Palomar darauf gefaßt, ein mürrischer Toter zu werden, der sich nur schwer damit abfinden kann, zum So-wie-er-ist-Bleibenmüssen verurteilt zu sein, aber der nicht bereit ist, auf irgend etwas von sich zu verzichten, auch wenn es ihn belastet.
Sicher könnte ich auch – denkt er manchmal – auf die Anlagen setzen, die gewährleisten, daß zumindest ein Teil von mir in der Nachwelt weiterlebt, und die sich grob gesehen in zwei Kategorien einteilen lassen: in die biologische Anlage, die mir erlaubt, jenen Teil von mir selbst der Nachwelt zu überliefern, den man das genetische Erbe nennt, und in die historische Anlage, die dem Gedächtnis und der Sprache der Weiterlebenden jenes Stück oder bißchen Erfahrung vererbt, das auch der Unbegabteste sammelt und akkumuliert. Wenn man will, kann man diese beiden Anlagen auch als eine einzige sehen, vorausgesetzt, man betrachtet die Folge der Generationen als Phasen eines einzigen Lebens, das Jahrhunderte und Jahrtausende überdauert. Doch damit verschiebt man nur das Problem vom eigenen Tod als
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