Herr Palomar
Unkraut profitiert.
Herr Palomar, tiefgebeugt über den Rasen, jätet das Unkraut. Ein Löwenzahn klammert sich mit einem Fächer dicht aufeinanderliegender Zackenblätter fest an die Erde; wenn man am Stengel zieht, behält man ihn in der Hand, während die Wurzeln fest in der Erde haften. Man muß mit einer kreisenden Handbewegung das ganze Gewächs erfassen und behutsam die Wurzelfasern aus dem Erdreich ziehen, womöglich indem man Schollenstücke und einzelne Grashalme, die der wuchernde Nachbar schon halb erstickt hat, mit herauszieht. Dann muß man den Störenfried an einem sicheren Ort verwahren, wo er nicht neuerlich Wurzeln schlagen oder Samen verstreuen kann. Und hat man erst einmal mit dem Jäten begonnen, zum Beispiel indem man ein Queckengras ausreißt, entdeckt man sofort ein anderes weiter drüben, und noch eins und noch eins … Kurzum, dieses Stückchen Grasteppich, das nur ein paar nachträgliche Korrekturen zu benötigen schien, erweist sich als ein gesetzloser Dschungel.
Bleibt gar nichts mehr außer Unkraut? Schlimmer noch, die üblen Gewächse sind so fest mit den »guten« verwoben, daß man nicht einfach hineingreifen und daran ziehen kann. Es scheint, als wäre es zu einem komplizenhaften Einverständnis zwischen den ausgesäten und den wildgewachsenen Gräsern gekommen, zu einer Lockerung der Standesgrenzen, einer resignierenden Duldung der Dekadenz. Einige wildgewachsene Gräser sehen an und für sich gar nicht bösartig oder heimtückisch aus. Warum sie nicht aufnehmen in die Zahl der mit vollem Recht zum Rasen gehörigen Gräser, sie integrieren in die Gemeinschaf der kultivierten? Dies ist genau der Weg, der dazu führt, den »englischen Rasen« aufzugeben, um zur wildwuchernden »ländlichen Wiese« zurückzukehren. Früher oder später – denkt Herr Palomar – wird man sich dazu entschließen müssen. Aber es ginge ihm gegen die Ehre. Eine Zichorie springt ihm ins Auge, ein Borretschkraut. Er reißt sie entschlossen aus.
Sicher, da und dort einzelne Unkräuter auszureißen, hilft gar nichts. Man müßte folgendermaßen vorgehen, denkt er: Man nimmt sich ein Rasenquadrat von, sagen wir, einmal einem Meter und jätet es gründlich, bis nichts mehr übrig bleibt außer Klee und Lolch und Rispengras. Dann geht dann weiter zum nächsten Quadrat. Oder nein, man bleibt auf einem Quadrat und nimmt es als Muster: Man zählt die Grashalme, die darauf wachsen, erfaßt sie gesondert nach Arten und Dichte und lokaler Verteilung etc.; auf der Grundlage dieser Zählung gelangt man alsdann zu einer statistischen Kenntnis des Rasens, und sobald diese feststeht …
Doch die Halme zu zählen ist sinnlos, ihre genaue Zahl wird man niemals erfahren. Ein Rasen hat keine klaren Grenzen, es gibt Ränder, wo das Gras zu wachsen aufhört, aber einige Halme sprießen auch weiter draußen; dann eine dichte grüne Scholle, dann ein nur spärlich bewachsener Streifen – gehören auch sie noch zum Rasen? Woanders schiebt sich das Unterholz in den Rasen, so daß man nicht sagen kann, was da noch Rasen ist und was schon Gestrüpp. Aber auch da, wo nur Gras wächst, weiß man nie, wo man aufhören kann mit dem Zählen, denn zwischen Pflänzchen und Pflänzchen findet sich immer wieder ein Hälmchen, das gerade aufkeimt und als Wurzel ein flaumiges weißes, kaum erkennbares Fädchen hat; vor einer Minute konnte man es noch vernachlässigen, aber bald wird man es mitzählen müssen. Dafür sind zwei andere Halme, die noch vor kurzem nur etwas gelblich waren, inzwischen definitiv verwelkt und müßten aus der Zählung gestrichen werden. Sodann die Fragmente von Gräsern, geköpfte Halme, am Boden abgeschnitten oder längs der Adern zerfetzt, Kleeblätter, die einen Lappen verloren haben … Die Bruchteile ergeben zusammengezählt keine ganze Zahl, es bleibt ein kleiner Rest verwüsteten Grases, zum Teil noch lebend, zum Teil schon matschig, Nahrung für andere Pflanzen, Humus …
Der Rasen ist ein Ensemble von Gräsern – so muß das Problem gefaßt werden: eine Gesamtmenge, die eine Untermenge von kultivierten Gräsern sowie eine Untermenge von wildgewachsenen Gräsern, sogenanntes Unkraut enthält; eine Schnittmenge der beiden Untermengen besteht aus wildgewachsenen, aber zur kultivierten Klasse gehörenden und daher nicht von ihr unterscheidbaren Gräsern. Die beiden Untermengen enthalten ihrerseits jeweils die verschiedenen Arten, von denen jede wiederum eine Untermenge darstellt, oder besser
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