Herr Palomar
Gefühle können so stark sein, daß er versucht ist, sie verbal auszudrücken, doch nachdem er sich dreimal, ja sechsmal auf die Zunge gebissen hat, überzeugt er sich, daß weder Gründe zum Stolz noch solche zur Reue bestehen.
Richtig gedacht zu haben ist kein Verdienst: Statistisch gesehen ist es fast unvermeidlich, daß sich unter den vielen haltlosen, wirren oder banalen Gedanken, die ihm in den Sinn kommen, ab und zu auch ein scharfsinniger oder gar wirklich genialer befindet, und so wie er ihm gekommen ist, kommt er gewiß auch anderen.
Strittiger ist die Frage, ob es richtig gewesen ist, seinen Gedanken für sich zu behalten. In Zeiten allgemeinen Verstummens ist Anpassung an das Schweigen der Mehrheit zweifellos falsch. In Zeiten, da alle zuviel reden, kommt es indessen nicht so sehr darauf an, das Richtige zu sagen, das ohnehin in der Flut von Wörtern untergeht, als es ausgehend von Prämissen und im Hinblick auf Konsequenzen zu sagen, die dem Gesagten größtmöglichen Wert verleihen. Wenn aber der Wert einer einzelnen Äußerung in der Kontinuität und Kohärenz des Redezusammenhangs liegt, in dessen Verlauf sie geäußert wird, bleibt einem nur die Wahl, entweder ununterbrochen zu reden oder gar nicht. Im ersten Falle würde Herr Palomar zu erkennen geben, daß sein Denken nicht geradlinig, sondern im Zickzack verläuft, durch Schwankungen, Widerrufe und Korrekturen, zwischen denen die Richtigkeit seiner Äußerung unterginge. Der zweite Fall impliziert eine Kunst des Schweigens, die noch schwieriger ist als die Kunst des Redens.
Tatsächlich kann auch das Schweigen als ein Reden betrachtet werden, nämlich als Ausdruck der Ablehnung des Gebrauchs, den andere von den Worten machen. Doch der Sinn dieses redenden Schweigens liegt dann in seinen Unterbrechungen, also in dem, was man ab und zu sagt und was dem Nichtgesagten eine Bedeutung verleiht.
Oder besser: Ein Schweigen kann dazu dienen, gewisse Worte auszuschließen oder sie aufzuheben, um sie bei einer besseren Gelegenheit zu gebrauchen. Ebenso wie ein Wort, das jetzt gesagt wird, morgen hundert Worte ersparen oder tausend andere erzwingen kann. Jedesmal, wenn ich mir auf die Zunge beiße – schließt im Geiste Herr Palomar –, muß ich nicht nur bedenken, was ich gerade sagen oder nicht sagen will, sondern auch alles, was, wenn ich rede oder nicht rede, von den anderen oder von mir gesagt oder nicht gesagt werden wird. – Nachdem er sich diesen Gedanken zurechtgelegt hat, beißt er sich auf die Zunge und schweigt.
Vom Ärger mit der Jugend
In einer Zeit, da die Unduldsamkeit der Älteren gegenüber der Jugend und der Jugend gegenüber der älteren Generation ihren Gipfel erreicht hat, da die Alten nichts anderes tun als Argumente zu sammeln, um den Jungen endlich einmal zu sagen, was sie verdienen, und die Jungen nichts anderes erwarten als diese Gelegenheit, um zu beweisen, daß die Alten nie was kapieren, bringt Herr Palomar kein Sterbenswörtchen hervor. Denn immer, wenn er sich einzumischen versucht, muß er feststellen, daß alle sich viel zu hitzig für ihre gerade vertretenen Thesen ereifern, um auf das zu hören, was er gerade sich selber klarzumachen versucht.
Die Sache ist nämlich die, daß Herr Palomar, statt eigene Wahrheiten zu verkünden, lieber Fragen stellen würde, und er versteht natürlich, daß niemand Lust hat, die eingefahrenen Gleise der eigenen Ansichten zu verlassen, um auf Fragen zu antworten, die, weil aus einer anderen Sicht der Dinge kommend, den Gefragten zwingen würden, die gleichen Dinge in anderen Worten zu überdenken und sich womöglich auf unbekanntem Gelände wiederzufinden, fern von den sicheren Wegen. Noch lieber würde Herr Palomar von den anderen gefragt werden, allerdings würden auch ihm nur gewisse Fragen gefallen und andere nicht. Nämlich nur jene, die er beantworten könnte, indem er sagen würde, was er sagen zu können meint, aber nur sagen könnte, wenn er darum gebeten würde. Doch es denkt ohnehin niemand auch nur im Traum daran, ihn um irgend etwas zu bitten.
Bei diesem Stand der Dinge begnügt sich Herr Palomar damit, im Stillen über die Schwierigkeit eines Dialogs mit der Jugend nachzugrübeln.
Die Schwierigkeit – denkt er – kommt daher, daß uns ein unüberbrückbarer Graben trennt. Etwas muß da passiert sein zwischen meiner und ihrer Generation, ein Erfahrungszusammenhang ist zerrissen: Wir haben keine gemeinsamen Bezugspunkte mehr.
Nein – denkt er
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