Herr Palomar
im Guten oder im Bösen.
Lange hatte Herr Palomar sich bemüht, eine abgeklärte Gelassenheit und Distanz zu erreichen, für die nichts anderes zählt als die heitere Harmonie der Linien des Plans: Jeder Riß, den die menschliche Realität zu erleiden hatte, um sich mit dem Modell zu identifizieren, jede Verzerrung und Verkürzung, der sie dabei unterworfen wurde, mußte als momentaner und irrelevanter Unfall betrachtet werden. Doch wandte er dann für einen Moment den Blick von der so harmonischen, so geometrisch klaren Figur am Himmel der idealen Modelle ab, so sprang ihm ein menschliches Panorama ins Auge, in dem die Ungeheuerlichkeiten und Katastrophen durchaus nicht verschwunden waren, im Gegenteil, so daß die Linien des Plans entstellt und verzerrt erschienen.
Was dann erforderlich wurde, war eine subtile Arbeit der Adjustierung, die schrittweise Korrekturen am Modell vornahm, um es einer möglichen Realität anzunähern, sowie an der Realität, um sie dem Modell anzunähern. In der Praxis ist nämlich die Strapazierfähigkeit der menschlichen Natur nicht so unbegrenzt, wie er anfangs geglaubt hatte, und umgekehrt kann auch das starrste Modell eine gewisse unerwartete Elastizität bezeugen. Kurzum, wenn es dem Modell nicht gelingt, die Realität zu verändern, müßte es der Realität gelingen, das Modell zu verändern.
Was sich allmählich veränderte, war Herrn Palomars Regel: Jetzt brauchte er eine Vielzahl verschiedener Modelle, die sich womöglich ineinander verwandeln ließen nach einem kombinatorischen Testverfahren, um dasjenige zu finden, das am besten auf eine Realität paßte, die ihrerseits immer aus vielen verschiedenen Realitäten bestand, in der Zeit und im Raum.
Bei alledem war es nicht etwa so, daß Herr Palomar selbst Modelle entwarf oder sich abmühte, schon entworfene anzuwenden: Er begnügte sich mit der bloßen Vorstellung eines korrekten Gebrauchs korrekter Modelle, um den Abgrund zwischen den Prinzipien und der Realität, den er immer mehr aufreißen sah, zu füllen. Kurzum, die Art und Weise, wie Modelle gehandhabt und dirigiert werden können, blieb außerhalb seiner Kompetenzen und Eingriffsmöglichkeiten. Mit diesen Dingen beschäftigen sich für gewöhnlich ganz andere Leute als er: Leute, die Modelle und ihre Funktionalität nach anderen Kriterien beurteilen, nämlich in erster Linie als Machtinstrumente, weniger nach den Prinzipien oder den Konsequenzen im Leben der Menschen. Was im Grunde auch ganz natürlich ist, denn schließlich ist das, was die Modelle zu modellieren trachten, noch immer ein Machtsystem. Doch wenn die Effizienz des Systems sich an seiner Unverwundbarkeit und seiner Fähigkeit zum Überdauern bemißt, wird das Modell zu einer Art Festung, deren dicke Mauern verbergen, was draußen geschieht. Herr Palomar, der sich von Mächten und Gegenmächten nur immer das Schlimmste erwartet, ist schließlich zur Überzeugung gelangt, daß letztlich nur zählt, was trotz der Mächte zustandekommt: diejenige Form der Gesellschaf, die sie allmählich annimmt, stillschweigend, anonym, in ihren Gewohnheiten, ihren Denk- und Handlungsweisen, in der Rangfolge ihrer Werte. Wenn aber die Dinge so liegen, dann müßte das Modell der Modelle, das Herrn Palomar vage vorschwebte, zur Konstruktion von durchlässigen, hauchdünnen, spinnwebzarten Modellen dienen, womöglich zur Auflösung der Modelle, ja zur Selbstauflösung.
An diesem Punkt blieb Herrn Palomar nur noch, die Modelle und das Modell der Modelle aus seinem Denken zu tilgen. Nachdem er auch diesen Schritt vollzogen hatte, steht er nun unmittelbar Auge in Auge vor der schwer zu beherrschenden und nicht homogenisierbaren Realität, um jeweils von Fall zu Fall sein Ja oder Nein oder Jein zu formulieren. Um das zu tun, ist es besser, den Kopf frei zu haben, nur möbliert mit Erinnerungen an Erfahrungsbruchstücke und an unausgesprochene, unbeweisbare Prinzipien. Keine Leitlinie, aus der er besondere Befriedigung ziehen kann, aber die einzige, die ihm praktikabel erscheint.
Solange es nur darum geht, die Übel der Gesellschaf anzuprangern und die Mißbräuche derer, die ihre Macht mißbrauchen, hat er keine Hemmungen (höchstens insofern, als er furchtet, daß auch die besten und korrektesten Dinge, wenn man zuviel davon redet, am Ende langweilig, schal und abgedroschen klingen). Schwieriger findet er es, sich zu äußern, wenn es um Abhilfemaßnahmen geht, denn er mochte erst sicher sein, daß sie nicht noch
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