Herr Palomar
sondern auch Täuschungen einzuschätzen.
Jeder Badende, der um diese Zeit nach Westen schwimmt, sieht den schimmernden Streifen, der auf ihn gerichtet ist, um knapp vor dem Punkt, an den er die Arme wirf, zu erlöschen. Jeder hat seinen Reflex, der nur für ihn diese Richtung hat und sich immer mit ihm bewegt. Rechts und links neben dem Streifen ist das Blau des Wassers viel dunkler. Ist dies das einzige nicht Illusorische, das wir alle gemeinsam haben: das Dunkel? – fragt sich Herr Palomar. Doch nein, das Schwert springt gleichfalls jedem ins Auge, es gibt keine Möglichkeit, ihm zu entfliehen. Ist das, was wir alle gemeinsam haben, vielleicht gerade das, was jedem persönlich zu eigen ist?
Windsurfer gleiten über das Wasser, kreuzen schräg geneigt gegen den Wind vom Lande, der sich zu dieser Stunde erhebt. Hohe Gestalten lenken den Mast mit gestreckten Armen, wie Bogenschützen, um die Brise zu nutzen, die im Segel knattert. Wenn sie den Reflex durchqueren, verblassen die Farben der Segel im glitzernden Gold, und die Konturen der Körper verschwimmen wie eingetaucht in die Nacht.
Das alles geschieht gar nicht auf dem Meer, auch nicht in der Sonne – denkt der schwimmende Herr Palomar –, sondern nur in meinem Kopf, in den Regelkreisen zwischen meinen Augen und meinem Gehirn. Ich schwimme in meinen Gedanken, nur dort existiert dieses Schwert aus Licht, und eben das ist es, was mich anzieht. Das ist mein Element, das einzige, was ich einigermaßen kennen kann.
Doch er denkt auch: Ich kann das Schwert nicht erreichen, es ist immer vor mir. Es kann nicht in mir sein und gleichzeitig etwas, in dem ich schwimme; wenn ich es sehe, bin ich ihm äußerlich und es bleibt draußen.
Seine Stöße sind matter und unsicherer geworden; man mochte fast meinen, daß seine Reflexion ihm das Vergnügen am Schwimmen im Sonnenreflex, statt es zu erhöhen, verleidet, als ließe sie ihn eine innere Grenze spüren, eine Schuld oder eine Verurteilung. Aber auch eine Verantwortlichkeit, der er sich nicht entziehen kann: Das Schwert existiert nur, weil er da schwimmt. Wenn er umkehren würde, wenn alle Schwimmer und Badenden wieder an Land gingen, was würde dann aus dem Schwert? In der zerfallenden Welt ist das, was er nun retten möchte, auf einmal ausgerechnet das Allerfragilste: jene Lichtbrücke über das Meer zwischen seinen Augen und der versinkenden Sonne. Herr Palomar hat keine Lust mehr zu schwimmen, er friert. Doch er schwimmt weiter: Er muß jetzt im Wasser bleiben, bis die Sonne ganz untergegangen ist.
Nach einer Weile denkt er: Wenn ich den Reflex hier sehe, ihn denke und ihn erschwimme, dann deshalb, weil am anderen Ende die Sonne ist, die ihre Strahlen aussendet. Was zählt, ist allein der Ursprung dessen, was ist: etwas, das mein Blick nur in abgemilderter Form ertragen kann, wie jetzt bei untergehender Sonne. Alles übrige ist Reflex unter Reflexen, einschließlich meiner Person.
Das Phantom eines Segels gleitet vorbei, der Schatten des Mastbaum-Menschen zischt durch die glitzernde Flut. – Ohne den Wind würde dieses dünne Gebilde aus Nylongewebe, Plastikgelenken, menschlichen Knochen und Sehnen nicht zusammenhalten. Nur der Wind macht daraus ein Wassergefährt mit scheinbar eigener Zweckbestimmung und Intention; nur der Wind weiß, wohin das Surfbrett mit dem Surfer gleitet – denkt Herr Palomar. Wie erleichtert er wäre, wenn es ihm gelänge, sein partielles und zweifelndes Ich in der Gewißheit eines generellen Prinzips aufzulösen! Eines einzigen und absoluten Prinzips, aus dem sich alle Taten und Formen herleiten? Oder einer gewissen Anzahl distinkter Prinzipien, heterogener Kraftlinien, die sich überschneiden, um der erscheinenden Welt von Mal zu Mal eine Form zu geben?
… Der Wind und natürlich das Meer, die Wassermassen, die solche dümpelnden oder gleitenden Körper wie mich und das Surfbrett tragen – denkt Herr Palomar, dreht sich auf den Rücken und spielt toter Mann.
Sein umgedrehter Blick sinnt den ziehenden Wolken nach, er betrachtet die wolkig bewaldeten Hügel. Auch sein Ich ist umgedreht in den Elementen – das Feuer am Himmel, die Luft in Bewegung, das Wasser als Wiege, die Erde als Halt. Sollte dies die Natur sein? – Doch nichts von alledem, was er sieht, existiert in Natur: Die Sonne geht nicht unter, das Meer hat nicht diese Farben, die Formen sind nur jene, die das Licht auf die Netzhaut projiziert. Mit unnatürlichen Bewegungen seiner Gliedmaßen dümpelt
Weitere Kostenlose Bücher