Herr Tourette und ich
Känguru.
Zucken im Bauch + Geräusch = keine Chance, den Wortfluss zu kontrollieren:
»Ich kann verdammt noch mal nicht erster Harpunier werden, wenn ein Auge wegverbrannt ist«, sage ich, ohne zu denken, dass ich dass sagen werde.
»Jetzt mal ganz ruhig …«
Ich versuche, mich zu beruhigen. Ich schlage das Mathematikbuch auf, Seite zwei. Wieder höre ich Geräusche um mich herum. Lena spielt mit dem Stift, lässt ihn zwischen den Zähnen hin und her wandern. Ich stecke meinen Stift in den Mund, mache genau dasselbe, nur zehnmal fester, um Lena aus dem Rhythmus zu katapultieren, um ihr Stiftekauen kaputt zu kauen.
»Still jetzt«, sagt jemand, wahrscheinlich das Känguru.
Ich sehe ins Mathematikbuch. Der Blick bleibt am Buchstaben x hängen. Ich nehme den Stift und kreise das x ein. X ist ein gefährlicher Buchstabe – er hat scharfe Kanten, steht hoch und steht runter, wie eine Schere, ein Messer. Gefahr … … x kann Löcher in Sachen machen – Stoff, Kleider, Insekten, Tiere, Menschen. Dann läuft Blut raus. Blut steckt an, Ansteckung tötet, tötet Menschen. Kann kein x mit der Hand schreiben oder allzu lange auf den Buchstaben schauen. Stichwunden + Blut + Ansteckung = Gefahr. Vermeide x. Z ebenso. Y auch. Der Buchstabe e hingegen erinnert an einen umgedrehten Angelhaken, der auch Wunden in die Haut reißen kann, die Blut machen, das Ansteckung macht, das Tod macht …
Ich schaue weg, wenn ich x, z, y sehe, und manchmal, wenn ich e sehe, vermeide die Gefahr. Ich fange auch an, alle x, z, y wegzuradieren. Nicht den ganzen Buchstaben, nur den halben. Schreibe halbe x, z, y anstelle von ganzen.
x = Ansteckung + Blut + Tod
halbes x = ungefährlich
z = Ansteckung + Blut + Tod
halbes z = ungefährlich
y = Ansteckung + Blut + Tod
halbes y = ungefährlich
Mathematikarbeit
Ich schlage die Mathematikarbeit auf. Das Einzige, was ich sehe, sind eine Menge x und z und y. Sie leuchten mir entgegen, wie Warndreiecke. Zucken im Bauch, Geräusch .
Der Lehrer sieht zu mir hin. Aber ich komme davon. Ich fange sofort an, alle x, z und y durchzustreichen.
X ist am schlimmsten, denn es sieht am brutalsten aus.
Dann kommt das z, das ist fast ebenso brutal, schließlich erinnert es an ein x mit Totalschaden.
Verschiedene Seiten einer Medaille, kurz gesagt.
Am Schluss kommt das y, das nur ein halbbrutaler Buchstabe ist. Nicht so aggressiv in der Ausformung wie x und z, aber ausreichend brutal, um in der Liste lebensgefährlicher Buchstaben noch unter die ersten drei zu kommen.
Ich korrigiere also weiterhin alle x, z und y. Ich streiche durch und schreibe neue x und z und y hin, schreibe halbe x und z und y. Jeder Buchstabe nimmt mir zehn Minuten von meiner Zeit.
Jetzt ist seit Beginn der Arbeit eine halbe Stunde vergangen. Die anderen scheinen konzentriert und motiviert zu sein. Ich bin motiviert, aber nicht konzentriert. Stattdessen rechne ich die Wahrscheinlichkeit aus, angesteckt zu werden:
Keine ganzen x + keine ganzen z + keine ganzen y = kein Blut = keine Ansteckung.
So. Jetzt kann ich anfangen zu rechnen. Endlich.
Ich schaffe es noch fünf Minuten zu rechnen, ehe das Känguru uns unterbricht:
»So, zusammen … jetzt ist die Zeit um.«
»Teufel noch mal«, denke ich.
»Still«, sagt Oskar vor mir.
Während Känguru die Mathearbeiten einsammelt, erzählt er, dass wir die Arbeiten am Ende der Stunde zurückkriegen. Derweil er sie korrigiert, sollen wir verschiedene Trapeze und Winkel und Rechtecke zeichnen. Ich fange an, das Dreieck zu malen, aber es dauert nur ein paar Sekunden, und schon verwandelt sich die eine Ecke in das Starttor von Europas gefährlichster Slalomabfahrt. Ich habe es nicht geplant, dass die Mathematikstunde dem World-Cup-Slalom in Wengen weichen muss, aber in Ermangelung von mathematischer Spannung zuckt es nun im Bauch – Dreiecke und Rechtecke werden durch eine Direktsendung der Sportschau ersetzt, und zwar mit mir selbst als Sportkommentator und Torsetzer.
Schnell stelle ich die Tore im Dreieck auf. Alle Tore sind blau oder schwarz. Ein Strich, ein Tor. Ich schaffe es, ungefähr fünfundvierzig Tore zu setzen. In die eine Ecke schreibe ich START . Ich umrande START mit einer rechteckigen Flagge, genau wie im Fernsehen. Dann mache ich genau dasselbe ganz unten im Dreieck, aber da schreibe ich ZIEL anstelle von START . Ich nehme meinen Bleistift und fahre langsam Slalom zwischen den Strichen, ohne die Tore zu berühren. Würde ich zufällig ein Tor
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