Herr Tourette und ich
Mathearbeit mit nach Hause zu euren Eltern, und dann sollen sie ganz unten auf Seite fünf unterschreiben. Damit klar ist, dass sie eure Mathearbeit gesehen haben.«
Mama und Papa sollen unterschreiben, also müssen sie die Mathearbeit anfassen. Dann können sie angesteckt werden, im Krankenhaus landen, sterben. Meine Schuld. Nur komplette Idioten bringen andere in Kontakt mit etwas Ansteckendem. In manchen Ländern steht auf so etwas sogar die Todesstrafe. Zucken im Bauch . Ich werfe die Mathearbeit in den Fluss. Nur wenige Sekunden später schon greift der Fluss die Mathearbeit an und ertränkt sie ebenso geschmeidig und brutal, wie Ingemar Stenmark seine Konkurrenten in Wengen in Grund und Boden fährt, yes Sir . Ich betrachte die Handschuhe … … die Handschuhe, die die Mathearbeit angefasst haben, die die Handschuhe angesteckt hat, die jemand in meiner Familie anfassen könnte, die denjenigen dann anstecken werden, was wiederum Tod und Verderben …
Ich werfe die Handschuhe auch in den Fluss. Sie verschwinden, vielleicht fünfzig, vielleicht hundert Meter hinter der Mathearbeit. Ich rutsche vorsichtig zum Fluss hinunter, strecke die Finger aus, tauche sie ins Wasser, spüle ab, was kleine Ansteckungsbazillen sein können, die vielleicht noch an den Fingern kleben geblieben sind. Ich bin sehr nahe am Fluss, halte mich aber mit der rechten Hand, mit der schmutzigen, an einem Ast fest, während ich die linke Hand wasche. Dann tausche ich, halte mich mit der linken Hand an einem anderen, sauberen Ast fest, während ich die rechte Hand wasche. Ansteckung weg. Ich schlängele mich wieder auf den Stein hinauf und halte nach den Handschuhen und der Mathearbeit Ausschau. Ich will sie wirklich gen Westen schwimmen sehen, hin zum Meer und noch weiter weg von unserem Haus. Ich weiß, dass Papa hier angelt, unterhalb der Brücke, nur zweihundert Meter von dem Stein entfernt, auf dem ich sitze. Ich will wirklich die Mathearbeit und die Handschuhe verschwinden sehen, sie sollen nicht auf den Grund des Flusses gesogen werden, an einem Stein hängen bleiben und von einem Lachs gefressen werden, der dann angesteckt wird, den Papa dann zufällig fängt, den er dann mitnimmt, isst, von dem er angesteckt wird – und stirbt. Aber jetzt weiß ich, weiß ich, ich weiß, dass sich die Mathearbeit und die Handschuhe mit hoher Fahrt dem offenen Meer nähern, und ich bin sicher und kann nach Hause gehen, und das ist schön, schön, so schön.
Die Möwe, Teil 1
»Deine Hände sind ja eiskalt«, sagt Mama, als ich nach Hause komme. »Was hast du denn gemacht?«
Ich sage es so, wie es fast gewesen ist:
»Ich bin mitten in eine Schneeballschlacht geraten.«
»Es gibt noch etwas Fischgratin«, sagt Papa, hinter der Lokalzeitung hervor.
»Fischgratin?«
»Fakegratin«, sagt meine große Schwester. »Da ist kein einziger Fisch drin.«
»Natürlich ist da Fisch drin«, sagt Papa.
»Ich habe auf jeden Fall keinen gefunden«, entgegnet meine große Schwester und verschwindet in ihr Zimmer.
Nach dem Essen werfe ich mich aufs Sofa, wärme meine Hände am Holzofen, bewege sie vor und zurück, bis es zu sehr weh tut, schön – Zucken im Bauch, kleines Geräusch .
Mama: »Du hast doch heute Morgen erzählt, dass ihr eine Mathearbeit schreiben würdet …«
Lange Pause.
»Habt ihr das?«
»Welche Mathearbeit?«
»Heute Morgen hast du erzählt, du würdest wahrscheinlich nach eben dieser Mathearbeit direkt auf die Seefahrtschule gehen können. Ihr würdet die Arbeit eine Stunde später schon zurückbekommen. Wie ist es denn gelaufen?«
»Was … was hast du gesagt?«
»Die Mathearbeit …«
»Ist Simen nicht erster Harpunier geworden, ohne auf die Seefahrtschule zu gehen?«
»Das war früher. Es ist also nicht so gut gelaufen?«
»Was denn?«
»Das ist doch keine Katastrophe. Du hast noch viele Jahre vor dir.«
»Gut …«
»Also, wie ist es gelaufen? Müssen wir die Arbeit nicht unterschreiben?«
»Ja, schon …«
»Und was ist damit?«
»Es stimmt nicht, was sie sagt, natürlich ist Fisch in dem Gratin«, unterbreche ich sie und fahre fort: »Sie begreift einfach nicht den Unterschied zwischen Fisch und Salami, Fakegratin und Fischgratin.«
Papa unterbricht mich:
»Heute Abend ist die Versammlung im Angelverein, da kann ich ja deinen Mathelehrer fragen, der dich auch morgen sicher fragen wird, warum wir die Arbeit nicht unterschrieben haben. Das ist nur eine Routinesache, damit der Lehrer
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