Herr Tourette und ich
die Türschwelle überqueren, und dann fünf Sekunden in der Küche warten, und das alles, ohne das Ritual auszuführen. Dann muss ich wieder zurückgehen, fünf Sekunden lang im Wohnzimmer warten und dann erst das Ritual ausführen. Ich soll versuchen, die Angst zehn Sekunden lang zu verschieben, um dann erst das Ritual auszuführen.
Ich gehe, überquere die Türschwelle, das Gehirn will sich aus dem Schädel drücken, die Beine zittern, ich schwitze und stöhne. Lasse hat die Stoppuhr in der Hand und sagt:
»Fünf Sekunden, vier, drei, zwei, eins, geh jetzt zurück.«
Ich gehe zurück ins Wohnzimmer. Lasse fährt fort:
»Fünf Sekunden, vier, drei, zwei, eins, jetzt führe das Ritual durch.«
Ich sehe auf einen hellblauen Punkt, hebe das Bein im Winkel von 40 + 5 Grad, gehe auf die Türschwelle zu, nähere mich der Türschwelle, bin nur Zentimeter weit von der Türschwelle entfernt, als die bösen Gedanken wieder ihren Platz im Kopf einnehmen und die Konzentration wegschubsen. Ich muss zurückgehen und das Ritual ein ums andere Mal wiederholen. Zwei Stunden später gelingt es mir, die Türschwelle zur Küche zu überqueren.
Tag 2.
Exakt dieselbe Sitzung, nur warte ich diesmal in der Küche und im Wohnzimmer jeweils acht Sekunden. Ich überquere die Türschwelle, Lasse zählt runter, ich schwitze, es geht mir schlecht, ich schreie und gehe zurück ins Wohnzimmer. Lasse zählt wieder runter, und ich führe das Ritual aus. Diesmal komme ich nach nur drei Versuchen in die Küche zurück.
Tag 3.
Exakt dieselbe Sitzung, nur soll ich diesmal fünfzehn Sekunden lang in Küche und Wohnzimmer warten.
Tag 30.
Exakt dieselbe Sitzung, aber jetzt muss ich in Küche und Wohnzimmer jeweils eine Stunde lang warten.
Ich spüre, dass die Angst ihren Griff gelockert hat. Sie packt mich nicht mehr am Hals, sondern ich kann sie ein paar Zentimeter vom Körper entfernt halten. Natürlich erleide ich Rückfälle, ich schwitze und ich schreie, aber ich mache die ganze Zeit weiter – zwei Schritte vor, einen zurück.
Lasse hat meinen Respekt, Lasse respektiert mich.
Tag 64.
Exakt dieselbe Sitzung, nur soll ich diesmal jeweils vierzehn Stunden in Küche und Wohnzimmer warten.
Ich gehe in die Küche, Lasse stellt die Uhr, ehe er nach Hause fährt. Wir werden uns morgen früh, eine Stunde, bevor ich ins Wohnzimmer gehen soll, wiedersehen.
Es ist vielleicht mitten in der Nacht oder am späten Abend, oder vielleicht auch nur zwei Stunden, nachdem Lasse nach Hause gefahren ist, als die Uhr stehenbleibt. Ich gerate in Panik, ich kann nicht mehr mitzählen, weiß nicht, wie lange ich in der Küche war … und ich bin allein. Meine einzige Zeugin ist die Uhr, und ausgerechnet die ist jetzt tot.
In dieser Nacht lege ich mich auf den Küchenfußboden und glaube, dass ich nie wieder aufwachen werde. Ein paar Stunden später knallt es im Kopf. Ich meine, eine Gehirnblutung erlitten zu haben, aber es stellt sich heraus, dass es nur die Morgenzeitung ist, die durch den Briefschlitz gepresst wird. Ich befühle den Körper, kneife mich in den Oberschenkel, stecke den Finger in den Mund. Doch, es tut weh. Ich lebe.
»Du lebst also noch«, sagt Lasse, als er kommt.
Dieser Tag verändert alles. Die Uhr ist stehengeblieben, ich habe nicht mitzählen können, hatte keine Ahnung, wie lange ich in der Küche war – wenn ich dabei nicht sterbe, dann werde ich auch alle anderen Türschwellen überleben. So einfach und so selbstverständlich.
An diesem Tag gehen Lasse und ich in der Stadt herum, zur Praxis, in den Keller, und ich lerne, Türschwellen zu überqueren. Von zehn Türen schaffe ich sieben. Bei dreien siegt das Ritual, bei sieben ich. 7 : 3, ein Kantersieg, der Gegner ist deklassiert, Gretzky wäre neidisch.
Drei Tage später wache ich mit Kopfschmerzen auf. Ich muss mich übergeben, fahre in die Notaufnahme, habe schrecklich Angst vor dem, was auf mich zukommt. In meinem tiefsten Innern weiß ich, was mir droht, vermeide aber, mir das Problem einzugestehen. Der Notarzt steckt mir überall Nadeln hinein. Der Kopf tut so furchtbar weh, dass ich mir in die Hose mache. Aber sie finden nichts, keine Symptome von Tumoren oder Gehirnhautentzündung. Ein anderer Spezialist wird aus der Neurologie gerufen. Er fragt nach dem, was ich sechs Jahre lang vermieden habe:
»Sind Sie in der letzten Zeit mal beim Zahnarzt gewesen?«
»Doch … doch, das war ich«, lüge ich.
»Dann seien Sie doch mal so nett und machen
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