Herr Tourette und ich
Also gehen wir raus, und es wird lange dauern, bis ich wieder in seinen Praxisräumen bin. Von jetzt an werden wir dort arbeiten, wo sich die Rituale am wohlsten fühlen – auf der Straße, zu Hause, in der Dusche, im Laden, in der Kaffeetasse.
Wir sprechen darüber, dass der Begriff Normalität nicht existent ist. Es gibt keine normalen Menschen. Stattdessen konzentrieren wir uns auf den Begriff »Normalvariante eines Verhaltens« und »Normalvariante eines Menschen«. Denn die gibt es.
Ich muss im Grunde genommen alles von vorn und neu lernen. Wie ein Kind lerne ich, wie die Normalvariante eines Menschen Fahrrad fährt, ich lerne, wie die Normalvariante eines Menschen eine Türschwelle überquert, eine Jacke anzieht, die Schuhe bindet, die Tasse anhebt, die Tür schließt, die Tür öffnet.
1. Eine Türschwelle überqueren
So – wie überquert denn die Normalvariante eines Menschen eine Türschwelle?
Es ist Mai, draußen ist es warm und Lasse hat eine rote Pudelmütze auf. Wir sitzen auf einer Bank vor einem großen Supermarkt. Wir beobachten Menschen, Normalvarianten eines Menschen, wie sie in den Laden rein- und rausgehen, wie sie sich bewegen, zurückgehen, umdrehen. Wir sitzen immer auf derselben Bank, jeden Tag, fünf Tage die Woche, fünfundvierzig Minuten am Stück. Die Behandlung erfordert Zeit und Geduld.
Wir sitzen auf der Bank, Lasse rechts, mit der roten Pudelmütze, ich links. Die Leute schauen auf die Mütze, im Mai, bestimmt fragen sie sich, wer hier der Patient und wer der Psychologe ist …
Nach einer Woche sagt Lasse:
»Jetzt wirst du meine Mütze wegwerfen, so dass ich sie aufheben muss. Und dann werde ich sie werfen, und du wirst sie aufheben.«
Ich überlege, was wir hier eigentlich machen, von der Pudelmützenmethode habe ich noch nie gehört. Aber ich unterschreibe das Formular, den Vertrag, den wir vor jeder Behandlungsstunde aufsetzen. Das ist, damit ich mich nicht entziehen kann und seine Ideen wegimprovisiere und stattdessen meine eigenen praktiziere.
Ich werfe die Mütze einen Meter nach links von der Parkbank. Lasse hebt sie auf. Wir gehen über die Straße zu der Einzimmerwohnung, in der ich jetzt wohne. Jetzt ist Lasse dran, die Mütze zu werfen, und er wirft sie genau in die Mitte zwischen Wohnzimmer und Küche – mitten auf die Türschwelle. Zucken im Bauch, Geräusch, Panik . Ich habe zehn Jahre lang keine Türschwelle angeschaut, ich war immer mehr als beschäftigt damit, nach einem blauen Punkt zu suchen, das Bein im Winkel von fünfundvierzig Grad anzuheben, zu zählen …
Das hier ist eine ungeheure Provokation, mir bricht der Schweiß aus, es wird mir übel, aber Lasse holt nur den Vertrag heraus. Ich zähle eins, zwei, drei, vier, fünf, bei + trete ich die Mütze mit dem linken Fuß hoch und beende dann das Ritual mit eins, zwei, drei, vier.
»Gut, das ist ein Anfang«, sagt Lasse. »Jetzt feiern wir mit einer Tasse Gevalia-Kaffee und einer Zimtschnecke.
Dieselbe Übung wiederholen wir viermal. Dann hören wir auf, ehe ich zu viel schwitze und gestresst bin.
Am folgenden Tag arbeiten wir ganz konkret an dem Türschwellen-Ritual. Nach so vielen Jahren, so vielen Stunden und Minuten voller Zwangsgedanken und ausgefeilten Ritualen kann man damit nicht einfach aufhören. Das kann man nicht verlangen. Man nimmt dem Alkoholiker nicht einfach die Flasche weg.
Ich schreibe das Tür-Ritual auf ein Blatt Papier, wie es aussieht, wie ich dabei denke, zeichne, wie ich mich bewege. Ich versuche, die Angst zu beschreiben. Diese verdammte, sich anschleichende Katastrophenangst.
Jetzt fangen wir an, das Ritual in Stücke zu hacken. Lasse dribbelt damit, blufft, erfindet neue Versionen des Rituals. Ein Ritual kann also aus verschiedenen Versionen bestehen, wenn man sich nur innerhalb eines gewissen Rahmens hält, wird das Endergebnis dasselbe sein. Diese Einstellung erleichtert mein Denken, verschafft mir eine andere Perspektive auf das Ritual. Verschiedene Versionen = derselbe Inhalt = erlaubt.
Ich stelle mich hin und bin bereit, Lasse das Ritual selbst zu zeigen.
Über den Türrahmen schauen. Nach einem blauen Punkt suchen (blau = Norden = gut = gute Farbe).
Jetzt habe ich die Aufgabe, nach einem hellblauen oder einem dunkelblauen Punkt zu suchen, also nach anderen Farben, die auch Blau enthalten. Damit betrüge ich das Ritual nicht, denn Hellblau und Dunkelblau sind schließlich nur andere Versionen von Blau. Also sehe ich auf einen hellblauen
Weitere Kostenlose Bücher