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Herr Tourette und ich

Herr Tourette und ich

Titel: Herr Tourette und ich Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Pelle Sandstrak
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Hilfe nicht wollen, dann wissen Sie, wo die Tür ist.«

    Langes Schweigen. Lasse fährt fort:

    »Also … sollen wir ein wenig arbeiten?«

    Lasse bekommt Kontakt zu mir. Er sieht meine Persönlichkeit, indem er seine eigene Persönlichkeit einsetzt. 2 : 0. Ich empfindet Respekt, tiefen Respekt vor seinen Fähigkeiten, und ich begreife, dass ich krank bin, schwer krank, und dass es keine Abkürzung gibt, das kann nur ein Superidiot glauben. Ich brauche Hilfe – so viel Integrität habe ich noch, einzusehen, dass ich ohne Hilfe nicht überleben werde. Lasses Integrität bewirkt, dass ich mich auf den Stuhl neben einer schwarzen Kiste setze.

    »Was ist in der schwarzen Kiste?«, frage ich.

    »Meine Trompete«, antwortet er. »Ich spiele bei Jensens New Orleans Trompete.«

    Es liegt Hilfe in der Luft. Ich kann es nicht erklären, aber ich spüre, dass die Hilfe an der nächsten Ecke wartet, oder an der übernächsten, oder noch ein wenig die Straße hinunter, aber jetzt bin ich zum ersten Mal in meinem Leben sicher, dass wir uns in derselben Stadt aufhalten, die Hilfe und ich. Das Gefühl ist nicht zu beschreiben und umwerfend – soll ich wagen, das zu glauben, oder lieber nicht? Ich wandere zum Hauptbahnhof hinunter. Ich merke, dass ich einen Zug nehmen muss, egal wohin, ich muss wegkommen, denken und klar werden und das Gehirn filtern. Um einem möglichen akuten Rückfall begegnen zu können, habe ich mir wieder einmal eine Interrailkarte gekauft.

Jetzt geht’s los

    Am nächsten Tag. Lasses Zimmer.

    Wir entwickeln die Strategie, Ziele, Teilziele.

    Strategie: mich motivieren, eine der härtesten und anstrengendsten Behandlungen anzufangen, die es gibt. Die Kognitive Verhaltenstherapie.

    Ziel 1: so weit gesund zu werden, dass ich arbeiten gehen kann.

    Auf dem Weg dorthin: zwei Schritte vor, einen zurück. Ja sagen, nicht nein. Ich soll etwas ausprobieren, ehe ich es ablehne.

    Wir skizzieren auf einem Blatt Papier:

    Zu welchem Zeitpunkt am Tag beginnen die Rituale, warum, wo?

    Wann ritualisiere ich am wenigsten?

    Wann geht es mir am schlechtesten, wann geht es mir am besten?

    Was belastet mich am meisten?

    Die Rituale haben schon mein halbes Leben lang meinen Alltag bestimmt, haben mich zu siebenundneunzig Prozent behindert gemacht. Kann ich mich noch erinnern, wie mein Leben ohne Rituale war? Werden sie irgendwann einmal aus meinem Leben verschwinden?

    Wir wissen es nicht. Aber durch harte Arbeit werden wir mein Leben leichter machen können, vielleicht geben die Rituale dann auf und können sich nicht mehr im selben Maße aufdrängen wie jetzt.

    Lasse kann nichts garantieren, jeder Patient ist der erste, die Methode ist relativ neu, ich bin ein schwerer Fall, das Verhalten hat sich schon im Gehirn festfressen können, und das wiederum vergiftet mein ganzes Verhalten. Aber wir probieren es. Ich weiß, wie es mir heute geht und wie es schon war. Kann es schlimmer werden, kann es noch schlimmer für mich werden?

    Ich kann ein besseres Leben haben. Wir beschließen, daran zu glauben.

    Wir rechnen aus, dass ich ungefähr einhundertdreiundsiebzig Rituale habe. Dann erstellen wir eine Liste mit den drei Ritualen, die am anstrengendsten sind und die mich am meisten behindern. Ich nenne es die »Höllenliste«. Und hier die drei Sieger:

    1. Eine Türschwelle überqueren

    2. Mich waschen (Duschen + Händewaschen)

    3. X, z, y

    Wir beschließen, mit der Nummer eins anzufangen. Dieses Ritual ist schon am längsten mit von der Partie, es belastet mich jede fünfte Minute, jeden Tag, das ganze Jahr über. Ich gehe auf Lasses Theorie ein: Wenn wir ein Problem lösen, dann lösen wir auch das nächste. Knacken wir dieses Ritual, dann kann das einen Dominoeffekt erzeugen, bei dem vielleicht auch das nächste und das übernächste Ritual fällt. Die meisten Rituale sind voneinander abhängig, sie paaren sich und gebären neue eklige Rituale. Wenn wir die Rituale voneinander trennen können, eines umbringen und ein anderes vergiften, dann kann es sein, dass sich die Rituale überrumpelt fühlen, dass sie in Panik geraten und ihren Griff lockern.

    Lasse erklärt nur selten im Detail, was wir tun werden. Er erkennt, dass ich etwas für Überraschungen übrig habe – in der Überraschung liegt die Herausforderung. Für mich.

    Wir reden so wenig wie möglich und agieren so viel wie möglich. Wir sind uns darüber einig, dass die Probleme nicht in seinen Räumen zu Hause sind, sie sind da draußen, im Alltag.

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