Herr Tourette und ich
Punkt, der so hellblau ist, dass der Punkt schon fast weiß ist. Und ich sehe auf einen dunkelblauen Punkt, der so dunkelblau ist, dass er fast schon schwarz ist.
»Lila ist ein Teil von Blau«, behauptet Lasse.
»Nein«, entgegne ich.
Ich brauche Beweise, also rufen wir, um der Diskussion ein Ende zu machen, einen Farbenhändler in Malmö an.
»Lila enthält Blau«, bestätigt der Farbenhändler und legt wieder auf.
Also wird auch die Farbe Lila zu einer anderen Version von Blau.
Wir machen weiter, schrauben uns weiter ins Ritual hinein.
Das linke Bein anheben (der Kaltwasserhahn sitzt bei alten norwegischen Waschbecken auf der linken Seite = blau = Norden = gute Farbe), im Winkel von 45 Grad (45 = 4 + 5 = 9 = gute Zahl).
Jetzt ist meine Aufgabe, das Bein anzuheben, erst im Winkel von 40 Grad, die Position zu halten und das Bein dann noch weitere 5 Grad zu heben. 40 + 5 = 45 Grad. Dasselbe wie 45 Grad, nur eine andere Version. Ich hebe das Bein um 39 Grad, mache Pause, halte die Position zwei Minuten lang, und füge dann 6 Grad hinzu. 39 + 6 = 45. Dasselbe wie 45 Grad, aber jetzt in einer anderen Version. Ich hebe das Bein erst um 60 Grad, senke es dann auf einen Winkel von 40 Grad, halte die Position eine Minute lang und lege dann noch 5 Grad zu. 60 - 20 + 5=45. Dasselbe wie 45 Grad, aber jetzt in einer anderen Version.
Wir arbeiten fünf Tage die Woche, jeweils zwei Stunden lang. Manchmal sind es auch drei Tage die Woche vier Stunden, bei akuten Angstanfällen arbeiten wir zwei Tage die Woche sechs Stunden lang. Wir müssen dann arbeiten, wenn die Zwänge da sind und wenn die Rituale sich aufdrängen – die Rituale nehmen keine Rücksicht auf geregelte Arbeitszeit und stempeln sich nur selten ein und aus.
Zu Anfang bittet mich Lasse, das Bein drei Sekunden lang im Winkel von 40 Grad zu halten, dann darf ich es auf 45 Grad anheben. Nach zwei Wochen Arbeit kann ich die Position mehrere Minuten lang halten. Wir arbeiten uns kreuz und quer durch das Ritual, finden neue Perspektiven, probieren uns voran, Schritt für Schritt. Ich schreie, breche zeitweilig fast zusammen, weil die Angst so heftig ist, die Furcht droht, mich umzubringen, ich will alles nur hinwerfen, aber Lasse ist da, er scheint alles unter Kontrolle zu haben. Jede Sitzung schließen wir mit einer Tasse Kaffe und einer Zimtschnecke ab. Und nach einem Monat fange ich an, Fortschritte zu machen. Wir haben das erste Teilziel erreicht. Ich bin nicht zusammengebrochen, ich lebe, das Gehirn ist nicht vergiftet, das Leben geht trotzdem weiter. Zwei Schritte vor, einen zurück, einen vor, zwei zurück. Und nach einem weiteren Monat geschehen plötzlich Dinge. Zwei Schritte vor, einen zurück, vier vor, drei zurück. Es geht vorwärts, es geht wirklich ernsthaft vorwärts, ich bewege mich in die richtige Richtung, die Rituale kommen nicht recht mit, sie schaffen es nicht, sich unserer Strategie zu erwehren. Zwischendurch ziehen sie mich mal wieder in die Gedankenhölle, aber das währt nicht mehr so lange. Ich habe eine Waffe gefunden und wage es auch, sie zu benutzen. Nach ein paar Monaten aber kommt der schlimmste Teil, vor dem mir schon lange graut: Ich soll eine Türschwelle überqueren, ohne überhaupt ein Ritual auszuführen. Die Türschwelle zwischen Wohnzimmer und Küche.
Tag 1.
Körperliches Unbehagen, Angst, Schweißausbrüche. Mir ist unvorstellbar, wie ich es schaffen soll, die Türschwelle zu überqueren, ohne zu ritualisieren. Ich kann mich nicht erinnern, wann ich das letzte Mal über eine Türschwelle gegangen bin, ohne das Ritual auszuführen. Habe ich das überhaupt je getan? Wir malen auf ein Papier, wie ich gehen soll, skizzieren es, als sei es ein Bewegungsschema. Ich sage, dass ich Angst habe. Ich weiß überhaupt nicht, was vor mir liegt, bin mir aber der Gefahren absolut bewusst. Ich fürchte, dass die Angst mich zerbrechen wird, das Gedankensystem wird kollabieren, ich werde mitten auf der Türschwelle steckenbleiben und mich nie wieder dort wegbewegen können, habe Angst, zusammenzubrechen und mitten zwischen zwei Zimmern zu sterben. Lasse sagt, dass es nicht lebensgefährlich ist, zusammenzubrechen, daran ist noch niemand je gestorben. Wir reden nicht viel, sind ziemlich schweigsam, er kocht den Kaffee, holt die Uhr heraus. Ich mache mich bereit, stelle mich im Wohnzimmer, vier Meter von der Türschwelle entfernt, auf. Lasse steht in der Küche, die Stoppuhr in der Hand.
Ich soll vom Wohnzimmer aus kommen,
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