Herrentier
Langsam richtete sie sich auf, zog ihre Bluse zurecht. Schuld, der Sockel des Abendlandes; keine Psychologin der Welt würde sie von ihr befreien können. Irgendwann im Leben war sie durch eine falsche Tür gegangen, ebenso wie Roberto. Und nun waren sie beide aussortiert, durch das Raster gerutscht. Die Evolution hatte ihre Gene beiseite geschnippt wie ein paar herumliegende Krümel. Evelyn knüllte das Tuch in einer Hand zusammen und warf es durch das offene Fenster.
Im Wohnzimmer lagen ein paar abgefallene Blüten eines Blumenstraußes. An dieser Stelle musste Holger sie gefunden haben, fast tot, in ihrem Blut liegend. Die Geschehnisse jener Nacht würden sie ein Leben lang verfolgen. Jeden Tag kämpfte sie bei Einbruch der Dunkelheit gegen die Angst. Sie liebte ihre Wohnung, doch spielte sie, seit sie aus dem Krankenhaus zurückgekommen war, mit dem Gedanken, sich eine neue zu suchen. Wie anders sollte sie die furchtbaren Erinnerungen besiegen? Etwas hielt sie jedoch davon ab, sich ernsthaft mit einem Umzug zu beschäftigen: Sie wollte, ja, sie durfte nicht aufgeben! Auf ihre Zielstrebigkeit bildete sie sich etwas ein; ganz gleich, was es war, Spiel, Projekt oder eine Vision: Aufgeben war inakzeptabel. Die Menschen waren keine Lemuren oder Mufflons, die von Natur aus von Weibchen dominiert wurden. Als Frau musste sie sich ihre Rolle als Leittier erkämpfen und stets gegen Männer verteidigen. Drängte man sie in eine Richtung, so stritt sie mit allen Mitteln für das Gegenteil. Ein Trotzreflex, der sich sogar angesichts der Erpresserbriefe in ihr regte. Ein Foto, das vor einigen Büchern im Regal lehnte, zeigte Holger und sie der Kamera entgegengrinsend in Barcelona, zu Füßen der Sagrada Família, der unvollendeten Kirche Antoni Gaudís. Evelyn lachte auf, ohne wahrhaft amüsiert zu sein. Der ganze Urlaub war eine einzige Farce gewesen. Holger war so schrecklich geizig, die ganze Stadt liefen sie zu Fuß ab, alles was Eintritt kostete, besah er sich lieber von außen. Etwas regte sich in Evelyn, sie presste ihre Lippen aufeinander. Sie atmete tief ein, dabei blähten sich ihre Nasenlöcher, als würde sie gleich zum Hochsprung ansetzen. Was gab ihr Halt im Leben? Sie kannte die Antwort, es gab nur noch eine. Es war der Zoo, ihre ewige Baustelle, ihre persönliche Sagrada Família. Sie würde den Erweiterungsbau durchboxen, und wenn sie sich einen Briefkasten nur für Drohbriefe vor das Haus hängen müsste. Ihre Backenzähne rieben aufeinander, sodass ihre Kaumuskulatur hervortrat. Es war schon spät am Tag. Irgendetwas musste sie tun, sie wollte jetzt nicht vor dem Fernseher sitzen. Evelyn dachte an Kramer, der sie beim Treffen im Borwin so enttäuscht hatte. Nach all den Jahren! Wie ein Lappen hatte er dagesessen; ihr fiel beim besten Willen kein anderer Ausdruck ein. Die Fortführung des Baus war ihm offenbar gleichgültig. Statt der Landgräfe die Daumenschrauben anzuziehen, hatte er den eloquenten Vermittler gespielt. Beim bloßen Gedanken an diesen Abend musste sie wieder würgen. Sie griff sich Telefon, Handtasche und Mantel, das Licht im Flur ließ sie an. Während sie die Tür ins Schloss zog, sah sie vor ihrem geistigen Auge, wie sie dem werten Herrn Dr. Dr. in den allerwertesten Hintern treten würde, damit er endlich seinen Einfluss geltend machte, für den er sich immer rühmte.
»Danke, Jan-Hendrik, dass du es so kurzfristig einrichten konntest.« Sie sah ihm direkt in die Augen. Professor Kramer hielt diesem Blick nicht stand.
»Keine Ursache, Evelyn, ich bitte dich, für dich jederzeit, das weißt du doch. Und wenn ich mir die Bemerkung erlauben darf, du siehst sehr gut aus.« Während er das sagte, wirbelte er unbeholfen mit einem Arm umher.
»Oh Gott, erspar mir solche Komplimente. Ich weiß ja nicht, was du bereits getrunken hast, aber ich habe heute schon in den Spiegel gesehen. Ehrlich gesagt, erinnere ich mich selbst an ein frisch geschorenes Alpaka.«
»Da spricht die Zoologin und erwischt mich ahnungslosen Ökonomen auf dem komplett falschen Fuß. Alpaka?«
Evelyn musterte ihn. Sie kannte ihn lang genug, dass ihr seine Nervosität nicht entging.
»Das ist eine Kamelform aus Südamerika, die vorwiegend ihrer Wolle wegen gezüchtet wird.« Es war das erste Mal, dass sie ohne Kopftuch auf die Straße gegangen war. Auch wenn hier am Gehlsdorfer Ufer kaum Menschen zu sehen waren, kämpfte sie mit dem Gefühl der Nacktheit. Von der Wasserseite her zog frische Luft auf. Evelyn hob ihren
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