Herrin der Stürme
sicher, noch nicht. Aber wenn die Straßen frei sind, und ich noch immer nicht komme – dann bin ich ein Verräter, mein Leben ist bedroht. Er fragte sich, was Damon-Rafael tun würde, wenn es keinen Zweifel mehr gab.
Inzwischen hatte Dorilys wiederholt einige Anfälle der Schwellenkrankheit gehabt, die aber nicht sehr schwer gewesen waren. Renata hatte ihr Leben keine Sekunde lang in Gefahr gesehen. Sie hatte unermüdlich an Dorilys’ Seite gewacht – und einmal mit leicht gezwungenem Lächeln zu Cassandra gesagt: »Ich weiß nicht, ob sie wirklich will, daß ich bei ihr bleibe – oder ob sie fühlt, daß ich zumindest nicht bei Donal sein kann, wenn ich bei ihr bin.« Unausgesprochen wußten beide Frauen, daß da noch etwas anderes war.
Früher oder später muß sie erfahren, daß ich Donals Kind trage. Ich will ihr nicht weh tun oder ihr noch mehr Kummer bereiten.
Immer wenn Donal Dorilys sah – was sehr selten geschah, denn er organisierte die Verteidigung gegen den Angriff, den man im Frühjahr mit Sicherheit zu erwarten hatte –, war er freundlich und zuvorkommend, der gleiche liebevolle ältere Bruder, wie stets. Aber immer, wenn Dorilys »mein Gatte« sagte, antwortete er nur mit einem gutmütigen Lachen, als sei es tatsächlich ein kindliches Spiel, und ließ ihr dabei den Willen.
Während der Tage, an denen Dorilys das Ziel wiederholter Anfälle von Orientierungslosigkeit und plötzlichen Umwälzungen wurde – bei denen ihre telepatische Fähigkeit sie in einen Alptraum voller Schrecken und Überlastungen warf –, waren sie und Cassandra sich sehr nahe gekommen. Ihre gemeinsame Liebe für Musik festigte diese Bindung. Dorilys war bereits eine talentierte Lautenspielerin. Cassandra brachte ihr bei, auch die Rryl zu spielen, und sie lernte von der älteren Frau einige Lieder aus Cassandras fernem Heimatland Valeron.
»Ich kann nicht verstehen, wie du das Leben in den Tiefländern aushalten kannst«, sagte Dorilys. »Ich könnte nicht ohne die Berggipfel leben. Es muß so trübselig und langweilig dort sein.«
Cassandra lächelte. »Nein, Liebes, es ist sehr schön. Manchmal fühle ich, wie die Berge mich so einschließen, daß ich kaum atmen kann – als wären ihre Gipfel die Gitterstangen eines Käfigs.«
»Wirklich? Wie seltsam! Cassandra, ich kann den Akkord am Schluß der Ballade nicht so wie du spielen.«
Cassandra nahm die Rryl aus Dorilys’ Hand und machte ihr es vor. »Aber du kannst sie nicht so anschlagen wie ich. Du mußt Elisa bitten, es dir zu zeigen«, sagte Cassandra und spreizte ihre Hand. Mit großen Augen starrte das Mädchen sie an.
»Oh, du hast sechs Finger! Kein Wunder, daß ich nicht so wie du spielen kann! Ich habe gehört, das sei ein Zeichen für Chieri-Blut, aber du bist keine Emmasca, wie es die Chieri sind, nicht wahr, Cousine?« »Nein«, erwiderte Cassandra lächelnd.
»Ich habe gehört… Vater hat mir erzählt, daß der König in den Tiefländern Emmasca ist, und daß sie ihn deshalb im Sommer vom Thron holen. Wie schrecklich für ihn. Hast du ihn einmal gesehen? Wie ist er?«
»Er war noch ein junger Prinz, als ich ihn zum letzten Mal sah«, antwortete Cassandra. »Er ist sehr still und hat ein trauriges Gesicht. Ich glaube, er hätte einen guten König abgegeben, wenn sie ihn hätten regieren lassen.«
Dorilys beugte sich über das Instrument und schlug den Akkord, der ihr Schwierigkeiten bereitete, versuchsweise immer wieder an. Schließlich gab sie es auf. »Ich wünschte, ich hätte auch sechs Finger«, sagte sie. »Ich kann so nicht richtig spielen! Ich frage mich, ob meine Kinder meine musikalische Begabung erben werden oder nur mein Laran.« »Du bist sicher noch zu jung, um schon an Kinder zu denken«, sagte Cassandra lächelnd.
»In wenigen Monden werde ich gebärfähig sein. Du weißt, daß ein Sohn mit Aldaran-Blut dringend gebraucht wird.« Sie sprach so ernsthaft, daß Cassandra ein großes Bedauern in sich fühlte.
Das machen sie mit allen Frauen unserer Kaste! Dorilys hat kaum die Puppen weggelegt, und schon denkt sie an nichts anderes, als an ihre Pflicht gegenüber dem Clan! Nach einer langen Pause sagte sie zögernd: »Vielleicht … Dorilys, vielleicht solltest du wegen deines Laran keine Kinder haben.«
»Wie ein Sohn unseres Hauses sein Leben im Krieg riskieren muß, muß die Tochter alles wagen, um ihrer Kaste Kinder zu geben.« Sie rezitierte den Spruch sachlich und entschieden. Cassandra seufzte.
»Ich weiß, Chiya. Seit ich ein Kind war,
Weitere Kostenlose Bücher