Herrndorf, Wolfgang - Sand
Raum verlassen. Sie ging auf die Toilette, warf einen kurzen Blick in den Spiegel und übergab sich. In sehr aufrechter Haltung kehrte sie anschließend in den Vorführraum zurück, blickte anderthalb Stunden knapp an der Leinwand vorbei und lauschte dem monotonen Rattern des Projektors. Als nächstes Stück stand Schnitzlers Reigen auf dem Spielplan, aber noch bevor die spannende Frage beantwortet werden konnte, welche Rolle man ihr diesmal zuteilen würde, trat sie aus der Theatergruppe wieder aus.
Ihr Dozent bedauerte diesen Schritt. Außer ihm schien niemand groß Notiz davon zu nehmen. So wie niemand Notiz davon genommen hatte, was für eine durch und durch lächerliche und geistlose Vorstellung Helen auf der Bühne gegeben hatte. Zwar in gewisser Übereinstimmung mit der Rolle – um ehrlich zu sein, in genauer Übereinstimmung mit der Rolle –, aber die Figur doch auf eine Weise gelungen darstellend, die man nur schlecht als geschauspielert empfinden konnte. Diese Mimik, diese Intonation! Und niemand fand es bemerkenswert. Beim Schlussapplaus warf Helen noch einmal einen Blick auf die Leinwand. Lärmpegel und Pfiffe verdoppelten sich, als Mae im grotesken Baumwollhänger einen Schritt nach vorne tat, geziert die Arme um zwei halslose Ungeheuer legte und den Mund zu einem entsetzlich dümmlichen Lächeln verzog. Das letzte Bild auf einer knatternd sich drehenden Filmspule.
Auf der anschließenden kleinen Feier trank Helen zu viel Wein, und ihre letzte Handlung, bevor sie sich dauerhaft von der Gruppe verabschiedete, war, dem Gleisarbeiter ins Ohr zu flüstern, sie werde ihn flachlegen diese Nacht. Sie nannte Adresse und Uhrzeit und ging, ohne seine Reaktion abzuwarten. Dass sie ihre Worte bewusst drastisch gewählt hatte, um einen Misserfolg von vornherein zu rechtfertigen, machte es nicht besser.
Aber es war kein Misserfolg. Um ein Uhr nachts kratzten im Studentenwohnheim Fingernägel auf Holz. Paul Newman hatte einen Blumenstrauß in der Hand, der aussah wie auf dem Friedhof zusammengeklaubt, und wirkte erleichtert, als Helen die Blumen achtlos ins Waschbecken warf und eine weitere Flasche Wein entkorkte. Bei Sonnenaufgang gestand er schluchzend, eine Verlobte zu haben, erntete als Reaktion ein Schulterzucken, und sie sahen einander nicht wieder.
Im weißen Frotteebademantel schlich Helen über die Gänge des Studentenwohnheims, stieg mit hängendem Kopf zwei Treppen hoch und klopfte bei ihrer besten Freundin Michelle Vanderbilt. Oder vielleicht nicht ihrer besten, aber ihrer ältesten Freundin. Michelle und Helen kannten sich seit der Grundschule, und vom ersten Tag ihrer Freundschaft an bestand ein starkes und unveränderliches Machtgefälle zwischen den beiden Mädchen.
Eine der frühesten, entsetzlichsten und exemplarischsten Erinnerungen: die Sache mit dem Kanarienvogel. Vielleicht in der dritten Klasse, vielleicht sogar noch früher. Da saßen sie zwischen lauter Spielsachen auf dem Boden, als sie aus dem Nebenraum einen furchtbaren Schrei hörten. Michelles jüngerer Bruder. Sekunden später kam ein kleiner, gelber Federball über die Türschwelle zum Kinderzimmer gehüpft. Das Köpfchen hing schlaff pendelnd zur Seite. Michelle sprang panisch auf, der Federball schwirrte wie vom Windstoß getroffen zur Seite, kullerte in den Flur hinaus und näherte sich gefährlich der Treppe. Helen vertrat ihm den Weg. Der kleine Bruder rannte hysterisch hin und her. Mrs. Vanderbilt sank wie ohnmächtig auf einen Stuhl, streckte abwehrend beide Hände aus, und Michelle schrie Helen an: «Jetzt hilf ihm doch! Jetzt hilf ihm doch!»
Die achtjährige Helen, die keine Haustiere besaß und auch diesen Vogel noch nicht außerhalb des Käfigs gesehen hatte, hob ihn vorsichtig auf und hielt das Köpfchen mit einem Finger hoch. Es fiel hinunter. Sie schlug vor, das Tier ins Bett zu bringen oder seine Wirbelsäule mit Streichhölzern zu schienen. Niemand reagierte. Schließlich ging sie in das Vanderbilt’sche Wohnzimmer und schlug im Lexikon nach. Sie hangelte sich von Kanarienvogel über Notfall, Genickbruch und Fraktur bis zur Querschnittslähmung. Sie schlug Michelle vor, einen Arzt anzurufen oder eine Freundin, die ebenfalls einen Vogel hatte.
Am Ende schaffte Mrs. Vanderbilt es, einen Veterinär ans Telefon zu bekommen, der riet, das Tier von seinen Leiden zu erlösen. Die Dame des Hauses hielt den Telefonhörer weit von sich weg in die Luft, wiederholte laut die Worte des Arztes und sah sich hilfesuchend um.
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