Herrndorf, Wolfgang - Sand
an schäbige Händler vermietet wurde. Jetzt stand es frei, wie ein Schild auf Arabisch und Französisch verkündete. Lundgren hatte eine Reservierung für das örtliche Zwei-Sterne-Hotel, aber er war kein Amateur. Er ließ sich das Zimmerchen zeigen.
Die etwa hundertjährige Wirtin führte ihn in den ersten Stock. Sie hatte ein Gesicht, das nur aus Falten bestand, mit zwei Löchern als Augen. Ihre Kiefer mahlten ununterbrochen, und aus dem jeweils tieferen Mundwinkel floss ein schwarzer Sud. Sie schloss eine niedrige Tür auf, dahinter eine Waschschüssel, eine Matratze, kein Strom. Kakerlaken flohen im Gänsemarsch an den Scheuerleisten entlang. Lundgren lächelte verbindlich – freundlich – und zahlte zwei Wochen im Voraus. Das Ungeziefer störte ihn nicht. Alte Sache: Wo es Araber gab, gab es auch Ungeziefer. Er wickelte eine Plastikfolie aus, die er mit Hilfe der Greisin über das Bett breitete, und bestrich die herabhängenden Ränder der Folie mit einer ockerbraunen, zähen Paste. Dann nebelte er das Zimmer mit einer Flitspritze ein und schloss die Tür. Was noch lebte, starb.
Die alte Frau beeindruckte das wenig. In der Küche bot sie Lundgren zu essen an, er lehnte dankend ab. Sie zog eine Flasche selbstgebrannten Schnaps unter der Schürze hervor, er behauptete, aus religiösen Gründen keinen Alkohol zu trinken. Anschließend bot sie ihm der Reihe nach einen Kaffee, einen Bohnenkaffee, einen Leihwagen, eine Prostituierte und ihre Enkelin an. Winziges Mädchen, garantiert keine zehn! Ihre dünnen, rissigen Lippen machten schmatzende Geräusche, um die verführerische Frische der Verwandtschaft anzudeuten. Lundgren sah die Greisin nachdenklich an, drückte ihr ein kleines Bakschisch in die Hand, ließ sich einen Schlüssel für die Haustür geben und sagte, er hieße Herrlichkoffer, aber sie solle mit niemandem darüber sprechen. Dann justierte er das Bärtchen auf seiner Oberlippe neu und spazierte hinaus in den Tod.
AUF DER GANGWAY
If you look good and dress well, you don’t need a purpose in life.
Rodert Pante
Für eine Passagierin, die in Targat keinen Landgang unternehmen, sondern von Bord gehen wollte, hatte Helen erstaunlich wenig Gepäck dabei. Einen kleinen Kalbslederkoffer und einen noch etwas kleineren Hartschalenkoffer aus schwarzem Plastik. Der Chefsteward verabschiedete die Fahrgäste. Bei der ganz in Weiß gekleideten Frau mit den platinblonden Haaren stutzte er.
«Auf Wiedersehen, Mrs. …»
«Auf Wiedersehen, Mr. Kinsella.»
Auf der Gangway stauten sich die Passagiere. Zwei Seeleute an Land versuchten, die Menschenmenge in grauen Dschellabahs fernzuhalten, ein Gewimmel aus Lastträgern, Hotelvermittlern und Taschendieben. Mit Waren behängte Händler und Krüppel riefen durcheinander, ein Kinderchor sang: «Donnez-moi un stylo, donnez-moi un stylo!»
Es waren die ersten französischen Worte, die Helen seit dem College gehört hatte. Sie schob sich die Sonnenbrille ins Haar, überlegte, ob es sinnvoll sei, ihre Taschen nach einem Schreibgerät zu durchsuchen, und spürte im selben Moment, wie jemand nach ihrem Koffer griff. Ein kleiner Junge hatte sich die Hälfte der Gangway hinaufgestürzt. Mit verbissenem Gesichtsausdruck riss er an dem Gepäckstück. Wollte er es tragen? Es stehlen? Helen umklammerte den Griff. Der Junge – verfilztes, schwarzes Haar, schmale Schultern – kämpfte einen stummen und verzweifelten Kampf, dann öffnete sich der Verschluss des Koffers, und sein Inhalt stürzte in buntem Schwung ins Meer, Lippenstifte und Salben und Fläschchen und Wattepads, gefolgt von dem anmutig mit den Flügeln schlagenden Koffer selbst. Helen stolperte einen Schritt zurück.
Sofort kam Mr. Kinsella die Stufen hinuntergerannt, und von unten boxte sich einer der Seeleute durch die Passagiere hinauf. Der eingekesselte Junge ließ sich unter den Halteseilen hindurchgleiten und plumpste in den schmalen Streifen Meer zwischen Schiff und Pier. Ein Betrunkener auf dem Oberdeck klatschte Beifall, der Junge hundepaddelte mühsam davon.
«Willkommen in Afrika», sagte Mr. Kinsella. Er half Helen, den anderen Koffer zu den Taxis zu tragen, und sah ihr lange hinterher.
Der Taxifahrer hatte nur einen linken Arm und schaltete die Gänge, indem er den Oberkörper herumdrehte, während er mit den Knien das Steuer festhielt. «Mine», sagte er und wedelte mit der kahlen rechten Schulter. Es war sein einziger Beitrag zur Konversation. Über schmale, abenteuerliche Serpentinen
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