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Herrndorf, Wolfgang - Sand

Herrndorf, Wolfgang - Sand

Titel: Herrndorf, Wolfgang - Sand Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Troll Trollson
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Kerzenschein weitergearbeitet, und unter dem Einfluss von Kif und Alkohol war ihre Ermüdung in Euphorie umgeschlagen. Sie veranstalteten im Hof Schneeballschlachten mit zerknülltem Papier und auf den Gängen eine Verfolgungsjagd mit rollenden Aktenschränken. Canisades erklärte sich zu Emerson Fittipaldi, Polidorio setzte mit einer Zigarette einen Abfallhaufen in Brand, dann fiel aus einer umgestürzten Hängeregistratur ein Packen Spezialausweise aus der Kolonialzeit. Sie spannten die Ausweise in die Schreibmaschine, trugen Phantasienamen ein und stolperten damit im Licht des hereinbrechenden Tages gemeinsam ins Bordell («Sonderermittler des Tugendkomitees, Bedeux mein Name»).
    Und davor eben der verhängnisvolle IQ-Test. An die meisten Erlebnisse dieser fatalen Nacht konnte Polidorio sich hinterher nur noch undeutlich erinnern. Aber das Testergebnis blieb hängen. Einhundertzwei.
    «Alkohol, Stress, Stromausfall!», rief Canisades, eine kleinbusige Schwarze auf jedem Knie. «Ist das eine Entschuldigung? Runden wir einfach auf hundert ab.»
    Canisades’ Ergebnis hatte deutlich höher gelegen. Um wie viel höher, selbst daran konnte Polidorio sich nicht erinnern. Aber die eigene Zahl stand von nun an festbetoniert in seinem Gedächtnis. Obwohl er sicher war, dass er im nüchternen Zustand mehr Punkte erzielt hätte – nicht mehr als Canisades, aber mehr auf jeden Fall –, fiel ihm das jetzt jedes Mal wieder ein, wenn er etwas nicht verstand. Wenn er etwas mühsamer begriff als andere, wenn er Sekundenbruchteile später über einen Witz lachte als seine Kollegen.
    Polidorio hatte sich immer für einen verständigen und begabten Menschen gehalten. Wenn er nun zurückblickte, wusste er nicht, worauf sich diese Überzeugung gegründet hatte. Er war ohne große Schwierigkeiten durch die Schule, die Ausbildung, die Prüfungen gekommen, aber mehr auch nicht. Immer Mittelfeld, immer Durchschnitt. Und nichts anderes besagte die Zahl ja auch: Durchschnitt.
    Die Erkenntnis, nichts Besonderes zu sein, überfällt die meisten Menschen einmal in ihrem Leben, nicht selten gegen Ende der Schulzeit oder zu Beginn der Berufsausbildung, und die intelligenteren eher als die unintelligenten. Aber nicht alle leiden gleich stark darunter. Wer mit den Idealen des persönlichen Verdienstes, der Leistung, des Herausragens als Kind nicht ausreichend vertraut gemacht worden ist, wird das Bewusstsein blasser Durchschnittlichkeit vielleicht hinnehmen wie eine zu große Nase oder zu dünnes Haar. Andere wieder reagieren darauf mit den bekannten Fluchtbewegungen, die von exzentrischer Kleidung über exzentrisches Leben bis hin zur ehrgeizigen Suche nach einem Selbst reichen können, das im eigenen Innern vermutet wird wie ein prächtiger verborgener Schatz, welchen die gnädige Psychoanalyse auch dem letzten Trottel zugesteht. Und die Sensiblen reagieren mit einer Depression.
    Schon ein paar Tage nachdem Canisades die herrlichen Erlebnisse der Nacht dem gesamten Kollegen- und Bekanntenkreis weitererzählt hatte, stand Polidorio vor seinem Fach mit der Nummer 703 und sah, dass irgendein Witzbold mit Kugelschreiber aus der 7 eine 1 und aus der 3 eine 2 gemacht hatte.
    Achtundzwanzig Jahre lang hatte er keinen Gedanken an die Höhe und Messbarkeit seiner Intelligenz verschwendet – jetzt dachte er manchmal an nichts anderes mehr.

    KAFFEE UND MIGRÄNE
     
    Ein Verrückter natürlich, so einer, der die Hosen voll hat und lauter erlesene Gefühle in sich spürt, der ist immer fein raus.
    Joseph Conrad
     
    «Und interessiert mich das? Das kannst du irgendwem erzählen, deinen Briketts kannst du das erzählen, aber nicht mir.» Polidorio hatte sich Kaffee eingeschenkt und rührte ihn mit dem Kugelschreiber um. Die blauen Fensterläden waren geschlossen bis auf einen schmalen Spalt weißer Mittagshitze. «Und du kannst hier auch nicht einfach reinkommen und irgendwen anschleppen. Hollerith-Maschinen! Du weißt nicht mal, was das ist. Und das interessiert mich nicht. Das Einzige, was mich interessiert, ist: Wo ist das passiert? Das ist in Tindirma passiert. Wer ist da zuständig? Also. Pack das da ein und verschwinde. Nein, rede nicht. Hör auf rumzureden. Seit einer Stunde redest du. Hör mir zu.»
    Aber der Dicke hörte nicht zu. In einer verschmuddelten Uniform stand er vor Polidorios Schreibtisch, und er machte es wie alle hier. Wenn sie nicht kooperieren wollten, redeten sie irgendeinen Unsinn. Wenn man sie dazu befragte, redeten sie einen

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