Herrndorf, Wolfgang - Sand
Doch kein Mitglied der Familie Vanderbilt war imstande, das Notwendige zu unternehmen, und so erbarmte sich schließlich Helen des Elends. Sie fegte den Vogel sacht in eine Plastiktüte, setzte beide Knie auf die Öffnung und schlug so lange mit einem Band der Encyclopaedia Britannica auf das Dreidimensionale der Tüte, bis es zweidimensional war.
Anschließend begruben sie das flache Ergebnis im Garten. Mrs. Vanderbilt stand weinend hinter der Gardine.
Es war mit Furcht gemischte Bewunderung, die Michelle an diesem Tag für ihre neue Freundin empfand, und dies blieb auch in den folgenden Jahren ihr beherrschendes Gefühl Helen gegenüber. Gelegentlich (und besonders während der Pubertät) kamen zu dieser Ehrfurcht noch eine Reihe anderer, sich abwechselnder Gefühle hinzu, Verständnislosigkeit, Schwärmerei, Wut, Eifersucht, vorsätzliche Kühle, fast Mitleid … und dann wieder noch größere Ehrfurcht und aufrichtige Liebe – sämtlich in ihrer Intensität gesteigert dadurch, dass das Objekt dieser widersprüchlichen Gefühle niemals auch nur den geringsten Unterschied zu bemerken schien.
Und so war der Tag nach der Filmvorführung ein ganz besonderer Tag für Michelle. Es war der erste und einzige Tag, an dem sie ihre Freundin schwach sah. Ein Häuflein Elend kam da im weißen Bademantel in ihr Zimmer geschlurft und verlangte nach Kräutertee und Zuwendung. Überwältigt von der Gelegenheit stieß Michelle das Messer in die Wunde und drehte es um: Das ginge doch jedem so, rief sie, jeder sei zunächst erschüttert, auch sie, Michelle, sei erschüttert gewesen, als sie neulich einmal zufällig ihre eigene Stimme auf Tonband gehört habe. Freilich kämen bei Helen noch die Bewegungen hinzu, und in Verbindung mit der Mimik sei das etwas, das man tatsächlich, wenn sie ehrlich sei … doch wenn man all die Jahre diesen Anblick … und es sei ja auch der Sinn von Freundschaft … letztlich gewöhne man sich. Und sie persönlich jetzt: wirklich kein Problem.
Michelle war in den Seminarräumen keine große Rhetorikerin, aber unter vier Augen und im herzlichen Gespräch konnte sie Textblöcke von beachtlichem Umfang in den Raum stellen. Auch wenn es in ihren Augen nur eine Lappalie war (Liebeskummer, Misserfolg oder eine Erkrankung der Hauskatze hätten sie mehr angestachelt), redete sie fast zwei Stunden ununterbrochen über das, was sie später die «Tonband-Sache» nannte.
Helen überhörte den gesamten Inhalt der Botschaft und nahm als Einziges deren Länge wahr. Man kann nicht zwei Stunden lang über etwas reden, sagte sie sich, das kein gravierendes Problem darstellt.
Einige Monate lang übte sie mit einem Diktaphon schnellere, klarere Aussprache, ohne Erfolg. Gleichzeitig suchte sie, um ihren Bewegungen das Gezierte und Schleppende auszutreiben, nach einer Sportart, die, wie sie annahm, allem zuwiderlief, was ihr Spaß machen oder ihrem Körper angemessen sein könnte, und kam auf Karate. Als eine von zwei Frauen schrieb sie sich für einen Kurs an der Uni ein und begriff nach vier Wochen, dass man vieles im Leben ändern kann, aber nicht gewisse physiologische Gegebenheiten. Helen wurde kräftiger und geschickter, doch an der Art ihrer Bewegungen änderte das nichts. Sie war Mae im Keiko-Gi, Mae beim Yokogeri, Mae auf der Matte. Es war eine deprimierende Zeit.
Trotz der Vergeblichkeit ihrer Bemühungen gab sie das Karate nicht auf. Als der Kurs an der Uni eingestellt wurde, wechselte sie in eine professionelle Sportschule. Dort war sie die einzige Frau, und ihr fiel die unverminderte Aufmerksamkeit aller anderen Kursteilnehmer zu, fast ausnahmslos Polizisten aus einer nahen Akademie.
Als sie ihr Studium beendete, hatte sie zwei Abtreibungen hinter sich, besaß den Schwarzen Gürtel in zwei Kampfsportarten, hatte drei oder vier Polizisten zum Freund und keine Ahnung, was sie mit ihrem Leben anfangen sollte. Hervortretende Wangenknochen und erste Fältchen um Mund und Augen verliehen ihrem Gesicht eine gewisse Härte, die nicht das war, was sie sich einst als Kur gegen ihr Selbst verordnet hatte, aber auch nichts völlig Unpassendes. Sie schminkte sich.
«Hör auf deine innere Stimme», riet Michelle, aber im Gegensatz zu ihrer Freundin konnte Helen eine solche Stimme in ihrem Innern nirgends entdecken. Der bürgerlichen Existenz stand sie fremd gegenüber, und hätte sie die Art und Stärke ihrer Empfindungen mit denen anderer Menschen vergleichen können, wie es für die meisten
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