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Herrndorf, Wolfgang - Sand

Herrndorf, Wolfgang - Sand

Titel: Herrndorf, Wolfgang - Sand Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Troll Trollson
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sie auf seinen Schoß und gab ihnen Nachhilfe in griechischer Geschichte. Wenn er ein wenig Geld hatte, kaufte er den Besten gefrorenes Wasser oder eine Schokolade oder was die kleinen Herzen so begehrten. In den Pausen spielten sie mit einem alten Fußball, und wenn eins der kleinen braunen Dinger Monsieur Bekurtz umdribbelt hatte, hob er es hoch und drückte dem Strampelnden zur Strafe einen feuchten Kuss auf die Stirn. «Ihr macht mich ganz verrückt!», rief der Lehrer dann, und glockenhelles Kinderlachen antwortete ihm. Aber meistens machten sie tatsächlich Unterricht.
    Die Legende vom Wissensdurst der Unterprivilegierten bewahrheitete sich nur halb. Wie überall gab es anderthalb Intelligente, fünf Mittelbegabte und einen unüberschaubaren Rest von entzückender Schlichtheit. Einige der Ältesten und Geschundensten kamen nur zum Unterricht, weil sie zu schwach zum Arbeiten waren, weil sie auf der Straße wie Hunde getreten wurden und weil in der fernen Koranschule kein Platz für Abschaum war.
    Schulbücher gab es nicht. Wenn Jean die Lust am Lesen und Rechnen verging, reproduzierte er schwerfällig das Halbwissen seiner eigenen Kindheit, las aus billigen Romanen vor oder zeichnete Diagramme aus Illustrierten an die Tafel. In dem Prospekt eines franko-belgischen Molkereikonzerns fand er die schematische Zeichnung einer Kuh, er ergänzte sie aus dem Kopf um vier Mägen mit unwahrscheinlichen Funktionen und sang das Hohelied der Naturbeobachtung. Ein toter Star, der morgens auf der Schwelle zum Schulgebäude lag, wurde mit einem Taschenmesser seziert und sein Flügelprofil mit der Tragflächenform einer Boeing verglichen. Das in einer Motorsport-Zeitschrift gefundene, phantastisch komplizierte Schema eines Otto-Motors schaute wochenlang als vergröberte Kreidezeichnung auf die Schüler hinab und wurde in allen Einzelheiten demokratisch gedeutet. Je nach Stimmungslage verwandelten sich so siebzig begeisterte Kinder wochenlang in Veterinäre, Piloten und Kfz-Mechaniker. Dass keines von ihnen jemals die Chance haben würde, tatsächlich einen dieser Berufe zu ergreifen, war ein Gedanke, den Jean in langen, einsamen Nächten von sich wegschob. Er erwachte morgens mit Kopfschmerzen und hatte Mühe, seinen gestaltlos flackernden Idealismus gegen die Geister der Nacht zu verteidigen. Mit den Jahren wurde er sentimental.
    Wenn er beim Anbruch des Tages auf dem Dach stand und die improvisierte Schulglocke schlug, wenn er die geliebten Wesen aus allen Richtungen auf sich zueilen sah, wenn sie schwatzend und kichernd, singend und winkend, traurig und heiter in sein Haus einzogen, wusste er, dass alle Mühe vergebens war. Ihr Schicksal auf den Müllbergen war so vorherbestimmt wie unabänderlich von Geburt an, als sei die Religion, der sie anhingen, ausnahmsweise einmal mehr als ein Märchen, und die kindlich bunte, heitere Hoffnung auf Bildung und Freiheit, die Jean in ihre kleinen Seelen einzupflanzen suchte, leuchtete so trübe wie unstetig, schwächlich und verlöschend durch eine von Aberglauben und Patriarchat vernebelte Welt. Aber sie leuchtete! Und Jean, der in seinem Leben vieles begonnen und wieder hingeworfen hatte, blieb seiner Bestimmung treu. Er war der Lehrer im Salzviertel, und er blieb es, Jahr für Jahr.
    Der Unterricht begann bei Sonnenaufgang, sommers wie winters. Die erste Stunde widmete sich dem lateinischen Alphabet, eine Gewohnheit, die Jean vom Spanier übernommen hatte. A wie Aufklärung. H wie Humanismus. Wörter mit Q gab es kaum. Jean schrieb auf die Tafel, und die Schüler schrieben mit Kreiden auf Holzbrettern, die zum Schulinventar gehörten. Die Bretter waren wie sandgestrahlt und wurden nach der Stunde mit Lumpen gereinigt.
    Im Frühjahr 1972, als Jean bereits zwei Jahre Lehrer im Salzviertel war, kam es zu einer kleinen Revolution auf dem Schreibsektor. Abderrahman, der Sohn des Wasserverkäufers, hatte irgendwoher einen Bleistift und schrieb aus Angeberei auf Papierschnipsel. Khalid Samadi, der der Bäcker vor Ort war und somit viel mehr als ein Wasserverkäufer, beschaffte daraufhin seinem Sohn Tarik für teuer Geld ebenfalls einen Bleistiftstummel und ein Oktavheft mit zur Hälfte unbeschriebenen Seiten. Schon wenige Wochen später schrieben nur noch die elendsten der Elenden auf Holz.
    Die beste Methode, an ein Schreibgerät zu gelangen, war, den Vierstundenmarsch durch die Stadt zu unternehmen und die Touristen an der Küste zu bedrängen. «Pour l’ecole, pour l’ecole» war ein

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