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Herrndorf, Wolfgang - Sand

Herrndorf, Wolfgang - Sand

Titel: Herrndorf, Wolfgang - Sand Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Troll Trollson
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klar, und sie formulierte sie mühelos. Noch überraschender war es, Briefe von ihr zu lesen.
    Mit anderen Worten, Helen war das genaue Gegenteil von dumm, und wenn nicht das Gegenteil von schön, so doch von einer klassischen Vorstellung von Schönheit sehr weit entfernt; was nichts an der Tatsache änderte, dass diese Vom-Hafen-abholen-Geschichte funktionierte. Oder funktioniert hätte. Es war Helens erster Besuch in Afrika, und niemand holte sie ab.

    DIE TAT EINES VERRÜCKTEN
     
    Er riet uns, sogleich aufzubrechen, und erbot sich, uns zu begleiten und vor Verrat zu schützen. Diese freundliche Geste eines verschlagenen alten Barbaren gegenüber zwei völlig hilflosen Fremden rührte mich zutiefst.
    Rider Haggard
     
    Der Beschuldigte hieß Amadou Amadou. Jedes einzelne Indiz sprach gegen ihn, die Summe der Indizien war ein Todesurteil. Amadou war einundzwanzig oder zweiundzwanzig, ein schlaksiger junger Mann, der mit seinen Eltern und Großeltern und einem Dutzend Brüdern und Schwestern zwei Straßen vom Tatort, einer agrarischen Kommune in der Oase Tindirma, entfernt wohnte oder gewohnt hatte.
    Die Kommune bestand überwiegend aus Amerikanern, einigen Franzosen, Spaniern und Deutschen, einer Polin und einem Libanesen, insgesamt doppelt so vielen Frauen wie Männern. Die meisten von ihnen hatten sich Mitte der sechziger Jahre in der Küstenregion um Targat kennengelernt und waren zufällig auf das Anwesen in der zwanzig Kilometer entfernten Oase aufmerksam geworden, ein billig zu mietendes, zweistöckiges Haus mit einem kleinen Stück Land. Der Traum vom natürlichen, selbstbestimmten Leben, eine Idee sozialer Selbstorganisation und so weiter. Keiner der Kommunarden hatte Erfahrung mit dieser Sorte praktizierter Utopie. Anfangs lebten sie von einem mühsam bewässerten Acker und einfachem Trödel, den sie den Einheimischen abkauften und in die Erste Welt exportierten, später kam gelegentlich Handel mit verbotenen Substanzen hinzu.
    Den zunächst misstrauisch beäugten, langhaarigen, redseligen und orientierungslos herumtappenden Kommunarden gelang es durch ihre Offenheit und Hilfsbereitschaft relativ rasch, das Wohlwollen ihrer neuen Nachbarn zu gewinnen. Freundlich und großzügig streckten sie die Hände zur Gegenseite hin aus, und die Gegenseite griff zunächst zögerlich und dann überraschend fest und herzlich zu. Fremder Schmuck wurde bestaunt, Haare wurden betastet, Lebensmittel getauscht. Es war die Zeit des großen Redens, der langen Diskussionen und der angedeuteten Verbrüderungen. Es kam zu einigen kleineren Festen und erster Unruhe. Im Laufe des Sommers wurde die Zahl der ungebetenen Gäste, die versuchten, finanziellen Vorteil aus der Kommune zu ziehen, unüberschaubar. Auch medizinische, handwerkliche und sexuelle Dienstleistungen wurden verlangt und teilweise gewährt. Eine Kette mühseliger Auseinandersetzungen, kommunenintern Missverständnisse genannt, war die Folge, woraufhin man sich zunächst diffus und dann programmatisch von den Einheimischen nach und nach wieder zurückzog, sich auf ein reines Geschäftsverhältnis besann und schließlich sogar die einen Meter sechzig hohe Mauer um das Anwesen herum um einen weiteren Meter aufstockte. Einer nur knappen Mehrheit von zwei Stimmen war es zu verdanken, dass in den frischen Lehm der Mauerkrone keine Glasscherben gedrückt wurden. Dies alles geschah im Laufe weniger Monate.
    Die beiden auffälligsten Figuren der Kommune waren der schottische Industriellenspross Edgar Fowler III und der französische Ex-Soldat und Herumtreiber Jean Bekurtz. In einem ihrer nüchternen Momente hatten sie die Idee zu der Kommune gehabt, mit ihrem ansteckenden Enthusiasmus Mitglieder – darunter eine beachtliche Zahl sehr gut aussehender Frauen – rekrutiert und einen groben Umriss dessen entworfen, was sie ihre Philosophie nannten.
    Doch die Wüste änderte die Anschauungen rasch. War man anfangs im Graubereich eines diskutierfreudigen Marxismus angesiedelt, mehrten sich schon nach kurzer Zeit die Räucherstäbchen im Haushalt. Zwischen Kerouac und Castaneda verschimmelte ein halber Meter Trotzki, und die Idee eines körperlich dauerhaft ineinander verflochtenen Humankapitals («Das ist nur eine Metapher») scheiterte am Widerstand uneinsichtiger Frauenzimmer. Zum Zeitpunkt unserer Erzählung war die Kommune auf das Niveau einer mickrigen ökonomischen Zweckgemeinschaft herabgesunken – um deren Prosperität es nur geringfügig besser bestellt schien als zur

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