Herrndorf, Wolfgang - Sand
unternommen, dem Ort einen anderen Namen zu geben, die dunkle Vergangenheit vergessen zu machen, aber weder unter den Einheimischen, noch unter den Arabern oder den zwei oder drei Kartographen, die von der Siedlung bis zum Jahr 1972 Kenntnis nehmen, kann sich eine andere Bezeichnung als Tindirma durchsetzen.
Am Mittwoch, dem 23. August 1972, war laut Augenzeugenberichten Folgendes passiert: Amadou Amadou war angetrunken mit einem Auto, einem hellblauen, verrosteten Toyota, der ihm nicht gehörte, in den Hof der in der Nähe des Suqs gelegenen Kommune eingefahren. Dort hatte er, wie fünf Mitglieder der Kommune übereinstimmend berichteten, zunächst nicht näher bezeichnete Dienstleistungen feilgeboten, anschließend bei einem servierten Tee ebenso freizügige wie anatomisch unkorrekte Reden über Sexualität gehalten (vier Augenzeugen) bzw. philosophische Gespräche über das Geschlechterverhältnis begonnen (eine Zeugin), hatte sich anschließend offenbar unbeobachtet in der Küche selbständig weiter mit Alkohol versorgt und war zuletzt mit einer plötzlich aufgetauchten Schusswaffe in der Hand durch das Anwesen gestürmt, auf der Suche nach Wertgegenständen. Eine Dual-Hi-Fi-Stereo-Kompaktanlage im Gemeinschaftsraum habe als Erstes sein Interesse erregt, doch habe er sie allein nicht transportieren können. Ein weibliches Kommunemitglied, aufgefordert, ihm die Boxen zum Auto hinterherzutragen, habe sich geweigert, da die Anlage noch nicht vollständig bezahlt gewesen sei, woraufhin Amadou ihr ins Gesicht geschossen habe. Er habe dann zwei weitere Kommunarden erschossen, die hinzugekommen seien, um ihn (mit Worten oder wie?) zu entwaffnen. Bei der weiteren Durchsuchung des Anwesens (jetzt die Waffe wie einen an der Leine zerrenden Hund vor sich her tragend) sei ihm ein Bastkoffer in die Hände gefallen, der randvoll mit Geld gewesen sei (Papiergeld unbekannter Währung). Amadou habe nun alles andere vergessen und mit dem Bastkoffer fluchtartig das Haus zu verlassen versucht. Dabei habe er eine Sandale verloren, die in einen Treppenschacht gefallen sei, habe einen weiteren Kommunarden in einem Schrank erschossen und sich beim Verlassen des Hauses noch eines auf der Küchenanrichte stehenden gutgefüllten Obstkorbes bemächtigt. Etwa dreißig bis vierzig Augenzeugen, von den Schüssen in den Hof der Kommune gelockt, hatten Amadou gesehen, als er, um die Menge zu zerstreuen, in die Luft schießend in den Toyota gesprungen und in Richtung Küstenstraße davongefahren war. Auf halber Strecke war ihm mitten in der Wüste das Benzin ausgegangen, und er war vom kleinen, dicken Dorfsheriff verhaftet worden, der mit dem Verdächtigen wenig später in Polidorios Büro vorstellig wurde. Amadou hatte bei seiner Verhaftung nur noch eine Sandale getragen. Der Bastkoffer mit dem Geld war unauffindbar gewesen, der Obstkorb jedoch stand auf dem Beifahrersitz des hellblauen Toyota in der Wüste. Die noch warme Mauser lag im Handschuhfach. Ein zur Waffe passendes leeres Magazin wurde später im Hof der Kommune sichergestellt. Im Treppenschacht wurde eine Sandale gefunden, die der Sandale, welche Amadou am Fuß trug, spiegelbildlich glich.
Amadou beschäftigte sich in seiner Aussage mit keinem einzelnen der gegen ihn erhobenen Vorwürfe. Er stritt die Tat pauschal ab. Das war nichts Ungewöhnliches. In einem Land, in dem das Wort eines Mannes noch etwas galt, gab es praktisch keine Geständnisse. Die Standardaussage aller Beschuldigten in allen Ermittlungen lautete, sämtliche gegen sie erhobenen Vorwürfe seien frei erfunden und sie fühlten sich tief in ihrer Ehre verletzt. Wenn Beschuldigte oder Angeklagte sich die Mühe machten, eine eigene Version des Tathergangs zu erfinden, nahmen sie in der Regel keine Rücksicht auf Details. Amadou machte hier keine Ausnahme. Die vorhandenen Fakten in das eigene Phantasiegebilde logisch zu integrieren, kam ihm nicht in den Sinn. Wie gelangte die Sandale in den Treppenschacht der Kommune? Wie kam das leere Magazin in den Hof? Wieso vermochten vierzig Augenzeugen Amadou eindeutig wiederzuerkennen? Amadou zuckte die Schultern. Das könne er beim besten Willen nicht sagen, und er verstehe nicht, warum man diese Fragen ausgerechnet an ihn richte. Sei es nicht vielmehr Aufgabe der Polizei, sie zu beantworten? Er zeigte auf irgendein elektrisches Gerät (Fernschreiber, Kaffeemaschine) und bat, man möge ihn an den Lügendetektor anschließen. Er schwor beim wahren und einzigen Gott, er erklärte,
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