Herrscher
gebissen hast. Jetzt sehe ich es selbst.«
»Nir-yat ist mir eine große Hilfe«, antwortet Dar, die es inzwischen nicht mehr wunderte, wie schnell sich in dem weitläufigen Familiensitz Neuigkeiten ausbreiteten. »Ich muss noch viel lernen.«
»Dann hast du den richtigen Ort aufgesucht. Es zählt zu meinen Pflichten, Königinnen zu beraten.«
Yev-yat ging zu einem Tisch und ergriff ein Brett. Im Gegensatz zu den meisten anderen Brettern war die Oberfläche dieses Brettes mit weißem Lehm aufgehellt worden, sodass die darauf erkennbaren, dunklen Zeichen sich deutlich abhoben. Sie reichte das Brett Dar. »Ich habe das Hanmuthi-Verzeichnis schon vorbereitet.«
Verkniffen musterte Dar die auf dem Brett befindlichen Zeichen. Sie erinnerten sie an die Symbole, die sie in der Stadt Tarathank an den Mauern gesehen hatte.
»Die niedrigste Familie steht an erster Stelle«, sagte Yev-yat.
Nir-yat schaute Dar über die Schulter und drehte das Brett in Dars Hand um. Dar lief rot an, als sie begriff, das sie es verkehrt herum gehalten hatte. »Solche Zeichen habe ich schon gesehen, aber ich kenne ihren Sinn nicht«, gestand sie.
»Es wird mir eine Ehre sein, dich die Fähigkeit ihrer Deutung zu lehren«, sagte Yev-yat.
Dar übergab das Brett Nir-yat. »Leg es Gar-yat vor, damit sie sich an die Planung der Festlichkeiten machen kann.« Sobald ihre Schwester fort war, blickte sich Dar in der Räumlichkeit um. »Ist auf jedem dieser Bretter Wissen zu finden?«
»Hai, Muth Mauk. Sie heißen Deetpahi.«
Dar zerlegte das Wort in »sprechen« und »Brett«. Yev-yat gab ihr ein anderes Deetpahi. Es unterschied sich von dem Brett mit dem Hanmuthi-Verzeichnis. Das Holz war unbemalt, und die Zeichen hatte man der Oberfläche eingebrannt. Rundherum war das Deetpahi mit Wachs eingerieben worden, das im Laufe der Zeit eine dunkle Färbung angenommen hatte. »Wie spricht dieses Brett zu dir?«, fragte Dar.
»Jedes Zeichen steht für einen Laut. Wir kennen vierzig Zeichen, für die es in unserer Sprache je einen Laut gibt.« Mit der Kralle berührte Yev-yat eines der Zeichen. »Hier das steht für ›m‹.« Sie bewegte die Kralle über die Zeichen abwärts. »Diese Reihe bedeutet ›m-u-t-h-u-r-i‹, Muthuri.«
»Was für eine nützliche Fähigkeit«, sagte Dar. Sie betrachtete die Tausende von Brettern. »In diesen Räumen liegt viel Wissen.«
»In der Tat, Muth Mauk, und ich erforsche es jeden Tag. Noch muss ich viel lernen, und diese Kammer des Wissens ist winzig im Vergleich zu der riesigen Einrichtung, die es einst in Tarathank gab. Einige ihrer Deetpahi sollen schon am ersten Tag der Welt beschrieben worden sein.«
»Ich war in Tarathank, aber so eine Stätte habe ich dort nicht gesehen.«
»All das Wissen haben die Washavoki verbrannt«, sagte Yev-yat mit so kummervoller Stimme, als hätte der Frevel erst gestern stattgefunden.
»Als Muth-yat mit mir über die Wiedergeburt sprach, hat sie erwähnt, sie würde ihr Geheimnis aus uralten Schriften kennen. Liegen diese Schriften hier?«
»Hai, aber sie sind schwierig zu verstehen. Ihre Worte klingen für uns fremd.«
»Hast du ihr bei der Deutung geholfen?«
»Gewiss, aber Muth-yat hört nur, was sie zu hören
wünscht. Ich habe sie gewarnt, dass Wiedergeborene seltsame Schicksalspfade beschreiten.«
»So wie Velasa-pah?« Die Wissenshüterin gab keine Antwort. »Hat Muth-yat dir verboten«, fragte Dar, »über ihn zu reden?«
»Die Deetpahi sprechen, nicht ich. Keine Matriarchin kann eine Wissenshütern zum Schweigen verurteilen.«
»Aber eben hast du geschwiegen.«
»Unheimliche Geschichten umranken Velasa-pah. Sobald ich über ihn sprach, wurde Muth-yat zornig.«
»Wieso?«
»Jedes Deetpahi spricht mit einer eigenen Stimme, doch sie sagen nicht immer das Gleiche. Muth-yat wollte Gewissheit, aber ich konnte sie ihr nicht geben. Vielleicht wirst auch du verärgert sein. Über Velasa-pah haben wir kaum gesicherte Kenntnisse.«
»War er ein Zauberer?«
»Hai. Es ist allgemein bekannt. Bisweilen spricht Muth’la zu Söhnen, und diese Söhne werden Zauberer. Das Wissen, das sie ihnen gewährt, ist anderer Natur als die Weisheit, die sie Müttern schenkt. Val-hak hat sie den Sandeis-Zauber gezeigt. Fluuk-jan begnadete sie mit dem Zauber zum Schmieden des Stahls.«
»Und welches Wissen fiel Velasa-pah zu?«
»Es war eine außerordentliche Gabe. Er erlangte Einblicke in die Geisterwelt. Die Washavoki nannten seine Begabung ›Höllenzauber‹ und begegneten ihr mit
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