Herz aus Eis
»Soweit wir den Hergang der Ereignisse rekonstruieren können, haben die Dienstboten drei Minuten, ehe du das Haus betreten hast, Jacob Fenton tot am Fuß der Treppe gefunden. Aus irgendeinem Grund beschlossen sie alle, Hilfe herbeizuholen, und ließen die Türen offen und den Toten allein im Haus zurück. Dann kam Marc mit seinen Freunden und Freundinnen von einer nächtlichen Zechtour nach Hause und sahen dich am Kopfende der Treppe stehen. Sie glaubten, du hättest Jacob Fenton die Treppe hinuntergestoßen. Du hast Glück gehabt; denn Marc wollte dich am Balkongeländer über der Haustür aufhängen.«
Kane rieb sich die Beule auf seinem Hinterkopf. »Aufhängen kann auch nicht schlimmer sein als das da«, ächzte er.
»Sie können selbstverständlich jederzeit nach Hause gehen, Mr. Taggert«, sagte der Sheriff. »Und ich würde Ihnen empfehlen, sich von hier zu entfernen, ehe Ihre Frau von Ihrem Aufenthalt im Gefängnis erfährt. Frauen können sehr laut werden, wenn ihre Ehemänner hinter schwedischen Gardinen sitzen.«
»Nicht Houston«, sagte Kane. »Sie ist eine wahrhaftige, unverfälschte Lady. Sie würde selbst dann nicht laut werden, wenn sie mich am Balkongeländer baumeln sieht.« Noch während er diesen Satz sagte, kam ihm ein anderer Gedanke: Wie würde Houston reagieren, wenn sie glaubte, er habe tatsächlich einen Mord begangen? Hatte er nicht einmal gehört, daß der Staat das gesamte Vermögen eines Mörders beschlagnahmte? Oder war es vielmehr so, daß der Mörder sein Opfer nicht beerben durfte?
»Wie viele Leute wissen von diesem Mißverständnis?« fragte Kane. »Fentons Diener können zwar meine Unschuld bezeugen; aber hat sich diese Tatsache schon in der Stadt herumgesprochen ?«
»Ich habe Lee sofort angerufen, als ich sah, wie der junge Fenton Sie bewußtlos aus der Kutsche zog«, sagte der Sheriff verdutzt.
»Die Leute sind viel zu sehr mit der Grubenexplosion beschäftigt, um sich für die Neuzugänge im Knast zu interessieren«, sagte Leander. »Alle Reporter sind oben in der Little Pamela versammelt und suchen nach immer neuen Möglichkeiten, verstümmelte Leichen zu beschreiben«, setzte er mit einer Grimasse hinzu.
»Was hast du vor?« fragte Edan mißtrauisch.
Kane schwieg einen Moment. »Sheriff, haben Sie etwas dagegen, wenn ich noch über Nacht in Ihrer Zelle bleibe? Ich möchte meiner Frau einen kleinen harmlosen Streich spielen.«
»Einen Streich?« wiederholte der Sheriff. »Frauen haben im allgemeinen keinen Sinn für so was, und wenn der Streich noch so gut und harmlos ist.«
Kane blickte zu Edan und Lee hinauf. »Kann ich mich darauf verlassen, daß ihr beiden vierundzwanzig Stunden den Mund halten könnt?«
Edan stand von der Koje auf und sagte, als er Lees befremdetes Gesicht sah: »Ich vermute, er will herausfinden, ob Houston zu ihm hält, wenn er ihr sagt, daß man ihm wahrscheinlich als Mörder den Prozeß machen wird. Habe ich recht?«
Kane fing an, die Spinnweben in einer entfernten Ecke der Zelle zu betrachten. »So etwas Ähnliches«, murmelte er.
Lee und der Sheriff räusperten sich.
»Ich bin weit davon entfernt, mich in die Herzensangelegenheiten anderer Leute einzumischen«, sagte der Sheriff. »Wenn Sie sich in diesem Gefängnis häuslich einrichten wollen, Mr. Taggert, sind Sie natürlich mein Gast; aber die Stadt Chandler wird Ihnen dafür eine Rechnung präsentieren, als wären sie im feinsten Hotel von San Francisco abgestiegen.«
»Kann ich nicht verübeln«, antwortete Kane. »Lee? Edan?«
Leander zuckte nur mit den Achseln. »Das ist deine Sache. Ich habe Houston fast mein ganzes Leben lang gekannt und weiß dennoch nicht, was für ein Mensch sie ist.«
Edan blickte Kane eine lange Sekunde an. »Wenn Houston diese Probe besteht — und sie wird sie bestehen —, wirst du dann endlich dein krankhaftes Mißtrauen aufgeben, damit wir wieder zu unserer Arbeit kommen? Vanderbilt hat inzwischen bestimmt die ganze Hafenfront von New York aufgekauft.«
Kane zog scharf die Luft ein. »Nun, dann kann er ja morgen anfangen, sie an uns zurückzuverkaufen. Sobald ich aus diesem Gefängnis entlassen werde«, sagte er grinsend hinzu.
Als die Männer die Zelle wieder verlassen hatten, lehnte sich Kane auf seiner Pritsche zurück und schlief ein.
Houston hatte ein drei Monate altes Baby auf ihrem Schoß und versuchte, es in den Schlaf zu wiegen. Im Bett neben ihr schliefen ein zweijähriges und ein vierjähriges Mädchen. Sie gehörten zu den vielen
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