Herz aus Eis
In all den Jahren, die er in New York geschuftet und zielstrebig an dem Aufbau eines Vermögens gearbeitet hatte, hatte er immer nur die Zeiten vor Augen gehabt, in denen er Fentons Reitstiefel geputzt hatte. Doch nun fielen ihm auch die Tage ein, an denen er Jacob hart zugesetzt, ihn vor seinen Gästen in Verlegenheit gebracht und mit ihm gestritten hatte, wann er seine eigenen Pferde benützen durfte und wann nicht. Und die Nachmittage, wo er die Köchin bezirzt und dazu überredet hatte, Zwiebeln an die Soßen zu tun, obwohl sie beide wußten, daß Jacob von Zwiebeln solche Magenbeschwerden bekam, daß er die ganze Nacht nicht schlafen konnte.
Langsam stieg Kane die Vordertreppe hinunter, doch er hatte erst zwei Stufen genommen, als Marc Fenton und fünf seiner jungen Freundinnen und Freunde in die Halle hereinstürmten. Nach dem Zustand ihrer Kleider und dem lauten Ton ihrer Stimmen zu schließen, kamen sie gerade von einer Zechtour zurück, die offenbar die ganze Nacht gedauert hatte.
»Wenn Taggert glaubt, er könnte mir mein Erbe wegnehmen«, hörte Kane Marc Fentons trunkene Stimme, »wird er sich mit mir streiten müssen. Und niemand wird einem Taggert mehr glauben als mir.«
Die beiden jungen Frauen — die eine im gelben Seidenkleid mit roter Federboa, die andere ebenfalls in gelber Seide, aber mit vier Pfaunenfedern im Haar — und die drei jungen Männer waren absolut seiner Meinung.
»Wo steht denn der Whisky, Liebling?« fragte eine der beiden Frauen.
Da kamen sie zur Treppe und blieben alle auf einmal stehen, um auf den Toten hinunterzustarren. Es war Marc, der als erster in die Höhe blickte und Kane am Kopfende der Treppe stehen sah.
»Ich wollte deinen Vater besuchen . . .« begann Kane, doch Marc gab ihm keine Chance, den Satz zu beenden.
»Mörder!« kreischte Marc und nahm zwei Stufen mit einem Satz.
»Moment mal!« rief Kane; doch niemand schenkte seinen Worten die geringste Beachtung, als die anderen drei Männer ihn ebenfalls ansprangen. Alle fünf Männer rollten nun die Stufen hinunter, und Kane dachte, da er der einzige Nüchterne von ihnen war, würde er auch der einzige sein, der dabei verletzt wurde. Trotz der Tatsache, daß einer gegen vier kämpfen mußte, gewann er rasch die Oberhand.
Doch dann schlug eine der beiden Damen Kane von hinten mit einer Messingstatue von David, der gerade seine Schleuder mit einem Stein laden wollte, über den Kopf.
Die vier Männer erhoben sich schwankend vom Boden und blickten auf den bewußtlosen Kane hinunter.
»Was machen wir jetzt?« flüsterte eine der beiden jungen Damen.
»Wir hängen ihn auf!« rief Marc und begann, Kane in die Höhe zu ziehen. Da er aber damit keinen großen Erfolg hatte und ihm die anderen nicht helfen wollten, blickte er mit flehenden Augen zu ihnen hoch und sagte: »Er hat meinen Vater umgebracht.«
»So viel Whisky gibt es nicht auf der Welt, wie ich schlucken müßte, um so besoffen zu sein, daß ich einen so reichen Mann wie ihn aufhängen würde«, sagte einer von den jungen Männern. »Wir bringen ihn ins Gefängnis, solange er bewußtlos ist. Soll der Sheriff sich mit ihm befassen.«
Es gab zwar noch Proteste von Marc; aber er war viel zu betrunken, um seinen Willen durchsetzen zu können. Und so mühten sie sich nun alle vier, den Bewußtlosen aufzuheben und zu der Kutsche zu tragen, die noch draußen in der Einfahrt stand. Nicht einer von ihnen schien einen zweiten Gedanken an Jacob Fenton zu verschwenden, den sie am Fuß der Treppe liegen ließen hinter der weit offenen Haustür.
»Hier — trink das«, sagte Edan und hob Kanes Kopf an.
Stöhnend versuchte Kane, sich aufzusetzen; doch die Kopfschmerzen waren so stark, daß er sich gegen die Zellenwand lehnen mußte. »Was ist passiert?« Er blickte hinauf zu Edan, Leander und den Sheriff, die sich alle drei über ihn beugten.
»Es war alles ein Mißverständnis«, begann Lee. »Ich habe dem Sheriff von dem Dokument erzählt und warum du Fenton heute morgen besuchen wolltest.«
»War er tatsächlich tot?« fragte Kane. »Es sah so aus, als ich zur Treppe kam und ihn unten liegen sah.« Kane ruckte mit dem Kopf in die Höhe, was die Schmerzen nicht gerade milderte. »Das letzte, an das ich mich erinnern kann, ist Marc Fenton, der mich mit ein paar Betrunkenen anfiel und die Treppe hinunterzog.«
Edan setzte sich auf den Rand der Koje, auf der Kane ausgestreckt lag. Rechts von ihm waren Gitterstäbe, die die Zelle von einem Korridor trennten.
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