HERZ HINTER DORNEN
diese Barriere zu rühren. Es war verheerend genug, dass er ihr das Trugbild eines Traumes vorgaukelte. Hatte sie nicht geschworen, die mühsam errungene Ruhe ihres Herzens nie wieder aufs Spiel zu setzen?
Sicher lag es allein an den Erschütterungen dieses ungewöhnlichen Jagdtages, dass es dem Normannen überhaupt gelungen war, sie dermaßen zu betäuben. Halb entführt, mit rüder Vergewaltigung bedroht, beleidigt, misshandelt, bis auf die Knochen durchgeschüttelt und vermutlich von Kopf bis Fuß mit blauen Flecken übersät, fehlte es ihr erbärmlich an der üblichen Gelassenheit. Je eher sie diese Haltung wieder fand, umso leichter würde sie den Seigneur in seine Schranken verweisen können.
Sie ahnte nicht, dass der Edelmann sie unter halb gesenkten Wimpern in einer Mischung aus Schock und Neugier musterte. Wie hatte er die bemerkenswerte Lady vergessen können, deren Züge sie trug? Sie war das jugendliche Ebenbild der stolzen Liliana von Hawkstone, eine Keltin vom Scheitel bis zur Sohle, bei der ein Schuss normannisches Blut nur dafür gesorgt hatte, dass die vollkommenen Züge eine sinnverwirrende Pikanterie bekommen hatten, die das Auge eines Mannes fesselte wie der Duft aufbrechender Frühlingsblüten ein Bienenvolk.
Jetzt, da das Rätsel gelöst war, lieferte ihm seine Erinnerung die schwachen Bilder eines wendigen, zutraulichen Kindes, das, noch fern aller weiblichen Formen, seine Tage in Hawkstone begleitet hatte. Die Anführerin einer Kinderschar, die im Schatten des Rosenturms von Hawkstone eine verblüffende Freiheit des Geistes und der Umgangsformen besessen hatte. Mehr Kobold als Mädchen, mehr Page als Jungfer. Die zurückliegenden Jahre hatten diesen Eindruck wahrhaftig korrigiert.
Heute besaß die zweite Tochter des Lords von Hawkstone einen bestürzenden Reiz, der unabhängig von Kleidung und Aussehen das Auge fesselte. Sie wirkte sanft, obwohl er Kraft und Leidenschaft in ihr spürte. Zerbrechlich und des Schutzes bedürftig, obwohl der waghalsige Ritt und die Tatsache, dass sie ihn im Großen und Ganzen schadlos überstanden hatte, von körperlicher Kraft und reichlich vorhandenem Mut sprachen.
Er hatte schmerzhaft gelernt, dass die Töchter des Rosenturms nicht jene harmlosen Engel waren, die ihr Äußeres vermuten ließ. Er würde kein zweites Mal den leichtsinnigen Fehler begehen, eine Frau aus dieser Familie zu unterschätzen. Immerhin besaß diese wenigstens nicht die Teufelsfarben ihrer Schwester, und vielleicht war dies ein Zeichen dafür, dass er sie eher manipulieren und täuschen konnte.
3. Kapitel
Die großen Wachskerzen auf dem Altar flackerten trotz des geschlossenen Portals in einem frischen Nordostwind, der seit dem vergangenen Abend über Winchester hinweg fegte. Der Herbst hatte seinen Einzug gehalten, und die Gläubigen, die sich zur Morgenandacht in der Burgkapelle versammelt hatten, waren fröstelnd in gefütterte Umhänge und pelzbesetzte Gewänder gehüllt.
Roselynne kniete zwischen den Damen der Prinzessin, den Scheitel mit einem zarten Schleier bedeckt, das Profil anmutig über die gefalteten Hände gesenkt. Unter den halb geschlossenen Lidern fehlte es ihr jedoch nicht nur wegen der empfindlichen Kälte an der nötigen Frömmigkeit, der morgendlichen Andacht zu folgen. Ihre Gedanken glichen einmal mehr aufgescheuchten Vögeln. Sie flatterten unterhalb der geschnitzten Balkendecke des Gotteshauses und ihr Ziel spottete der Heiligkeit des Ortes.
Die vergangenen Tage hatten ihr so geregeltes Leben auf eine Weise durcheinander gewirbelt, dass sie nicht einmal mehr im Gebet Frieden vor sich selbst fand. Zwar hatte die Prinzessin ihre Ehrendame für ihr eigenmächtiges Verschwinden bei der Falkenjagd gerügt, aber nicht näher nach den Gründen für ihren Ungehorsam geforscht. Es war ihr bekannt, dass Roselynne kein großes Vergnügen an der Jagd empfand und jede Gelegenheit ergriff, sich davor zu drücken.
Die junge Frau hatte den Tadel ihrer Herrin wortlos akzeptiert und den hässlichen Zusammenstoß mit dem schottischen Gesandten aus den vielfältigsten Gründen verschwiegen. Da war einmal der Wunsch, das unangenehme Erlebnis schnell zu vergessen und ihm nicht mehr Wichtigkeit beizumessen, als ihm zukam. Zum anderen aber auch die Erkenntnis, dass ein Skandal weder ihrem Ruf noch ihrer Ehre diente.
Im schlimmsten Fall würde sich der König veranlasst sehen, die Schotten zur Rechenschaft zu ziehen. Es lag ihr nichts daran. Es genügte ihr, dass der Graf seit
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