Scheunenfest: Ein Alpen-Krimi (Alpen-Krimis) (German Edition)
1
Ein sauberes Dekolleté, aus dem die Brüste appetitlich hervorquollen. Bierkrüge, die zusammenkrachten. Als er mit dem Tandemradl an den Schleierfällen vorbeifuhr, riefen ein paar Kinder: »Du musst immer einen Helm anziehen, Helm anziehen, Helm anziehen …« Die Frau mit dem Dekolleté lachte mit sehr roten Lippen. Ein alter Schulfreund, der zweite Mann auf dem Tandemrad, legte ihm die Hand auf die Schulter und grölte. Dann begann er zu wackeln und zu ruckeln. Sie würden umfallen, der Weg war doch so steinig …
Es war zwei Uhr achtundvierzig, als Herbert Springer aus dem Tiefschlaf fuhr. Für den Bruchteil einer Sekunde konnte er sich noch erinnern, was er geträumt hatte. Einen ziemlichen Schmarrn, denn den Schulfreund hatte er seit Jahrzehnten nicht mehr gesehen, der war nach Kanada ausgewandert, und natürlich konnte man an den Schleierfällen nicht radeln, man konnte dort ja kaum gehen, wenn man schlecht zu Fuß war.
Herbert sprang aus dem Bett. Der Traum war weggewischt, die Zeitspanne zwischen Schlaf und Wachen war so kurz gewesen wie ein Wimpernschlag. Hätte er die Augen noch geschlossen gehalten, hätte er den Traum vielleicht noch eine Weile festhalten können, aber in seinen Körper war schon so viel Adrenalin geströmt, dass sein Herz raste. Es war der nervige Piepser, der ihn geweckt hatte. Er las die Nachricht auf dem Display: eine Adresse, es waren Personen in Gefahr, die Einsatzart war ein B 5 . Als erster Kommandant wusste er, dass dies der feuerwehrinterne Code für einen Großbrand war.
Zwei Sekunden später schallten die Sirenen durch das Dorf, und schon drei Minuten nach der Alarmierung saß Herbert im ersten Fahrzeug. Er konnte fast in einem Rutsch in Hose und Stiefel springen. Als er mit dem Jeep durchs Dorf raste, war es zwei Uhr zweiundfünfzig. Der LF 20 , das erste Angriffsfahrzeug, so hieß das nun mal, war ihm auf den Fersen. Zum Glück wohnten viele seiner Leute unweit des Feuerwehrhauses.
Ein schwarzer Himmel wölbte sich über die Schneeflächen, und das fahle Mondlicht verschwand immer wieder hinter faserigen Wolken. Das Kreischen der Sirenen schallte auch durch die Nachbardörfer, und man hätte schon einen sehr guten Schlaf haben müssen, um nicht vom Geräusch aufzuschrecken. Fenster klappten, Köpfe reckten sich hinaus. Gestalten in Morgenmänteln, Pantoffeln oder eilig übergestülpten Stiefeln hasteten durch die verschneiten Bauerngärten. Wo brennt es? Hoffentlich nicht bei uns! Viele sahen am nachtschwarzen Himmel den Feuerschein, der hinaufzüngelte wie ein Feuer speiender Drache.
Es brannte beim Schmid, und das war gar nicht gut, schließlich lag der Hof mitten im Dorf. Die Tenne hatte bereits zur Hälfte Feuer gefangen, und zwar in der rechten Hälfte, die direkt ans Wohnhaus angrenzte. Immerhin gab es eine gute Brandschutzmauer dazwischen. Herbert wusste, dass dennoch immer alles passieren konnte, aber er hatte Routine und Nerven wie Drahtseile, zumindest solange das Adrenalin ihn begleitete, und das würde heute wohl noch eine Weile der Fall sein.
Die Wehren aus Oberammergau und Altenau heulten nun auch heran, und für einen Sekundenbruchteil fragte sich Herbert, ob die Saulgruber mal wieder in die falsche Richtung gefahren waren. Dann lächelte er, heute war kein Nebel, da würden die Nachbarn es ja wohl schaffen. Rotes Kreuz und Polizei lichtorgelten ebenfalls heran. Herbert wies die Kollegen von den anderen Wehren ein. Eigentlich hätte der Kreisbrandinspektor aus Ogau – so lautete die saloppe Abkürzung für Oberammergau – übernehmen sollen, doch der war im Urlaub.
Inzwischen hatte Herbert seinen Atemschutztrupp ins Wohnhaus geschickt, der Sicherungstrupp stand bereit, und auf die Tenne lief bereits voller Angriff. Bei einem Brand dieser Größe würde das Hydrantennetz in jedem Fall zusammenbrechen. Deshalb waren die anderen Wehren – Saulgrub und Ettal waren mittlerweile auch eingetroffen – damit beschäftigt, die Ansaugstellen an der Ammer zu besetzen.
Als die Kollegen Burgi Schmid auf einer Trage durch den Bauerngarten bugsierten, war es drei Uhr zehn. Ihr Mann Xaver humpelte, auf zwei Feuerwehrler gestützt, hinterher und brüllte irgendwas Unverständliches. Der Notarzt hastete den beiden Alten entgegen. Zu allem Überfluss hatte sich ein Ettaler Feuerwehrmann, ein Zuagroaster mit großer Klappe und Sendungsbewusstsein, den Knöchel gebrochen, als er vom Einsatzfahrzeug gesprungen war – wie ein Keltenkrieger, der sich in die
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