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Abendruh: Thriller (German Edition)

Abendruh: Thriller (German Edition)

Titel: Abendruh: Thriller (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tess Gerritsen
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    An dem Abend, als die dreizehnjährige Claire Ward hätte sterben sollen, stand sie in Ithaca auf dem Fensterbrett ihres Zimmers im zweiten Stock und überlegte hin und her, ob sie springen sollte oder nicht. Sechs Meter unter dem Fenster waren wild wuchernde Forsythiensträucher, die ihre Frühlingsblüte längst hinter sich hatten. Sie würden ihren Sturz abfedern, aber ohne Knochenbrüche würde es wahrscheinlich nicht abgehen. Sie sah zu dem Ahorn hinüber, beäugte den starken Ast, der sich so nahe zum Fenster hin reckte, dass sie ihn mit ausgestrecktem Arm fast berühren konnte. Bis zu diesem Abend hatte sie den Sprung noch nie gewagt, denn sie war nie dazu gezwungen gewesen. Bis zu diesem Abend war es ihr immer gelungen, sich unbemerkt aus dem Haus zu schleichen. Aber diese Abende der mühelos gewonnenen Freiheit gehörten der Vergangenheit an, denn Bob die Spaßbremse war ihr auf die Schliche gekommen. In Zukunft bleibst du schön zu Hause, wenn es draußen dunkel wird, junge Dame! Jetzt ist Schluss mit dem Herumstreunen!
    Wenn ich mir bei diesem Sprung den Hals breche, dachte sie, dann ist es allein Bobs Schuld.
    Ja, doch, diesen Ast konnte sie mit Sicherheit erreichen. Sie hatte an diesem Abend noch etwas vor, sie wollte Leute treffen, und sie konnte nicht ewig hier herumsitzen und ihre Chancen abwägen.
    Sie ging in die Hocke, spannte die Muskeln zum Sprung an – und erstarrte plötzlich, als die Scheinwerfer eines Autos um die Ecke kamen. Der Geländewagen glitt wie ein schwarzer Hai unter ihrem Fenster vorüber und fuhr weiter die ruhige Straße entlang, als ob der Fahrer nach einem bestimmten Haus suchte. Sicher nicht nach unserem, dachte sie; nie tauchte irgendjemand Interessantes bei ihren Pflegeeltern auf, bei Bob »Spaßbremse« Buckley und seiner noch langweiligeren Gattin Barbara. Sogar ihre Namen waren langweilig, ganz zu schweigen von ihren Tischgesprächen. Wie war dein Tag, Schatz? Und deiner? Das Wetter hat sich gebessert, nicht wahr? Reichst du mir bitte die Kartoffeln?
    In ihrer verstaubten Akademikerwelt war Claire die Fremde, das wilde Mädchen, das sie niemals verstehen würden, sosehr sie sich auch mühten. Und sie gaben sich wirklich Mühe. Wäre sie doch nur bei einer Familie von Künstlern oder Schauspielern oder Musikern untergekommen, bei Leuten, die die ganze Nacht aufblieben und wussten, wie man sich amüsiert. Bei ihrer Art von Leuten.
    Der schwarze Wagen war verschwunden. Jetzt oder nie, dachte sie.
    Sie holte tief Luft und sprang. Spürte das Rauschen der Nachtluft in ihren langen Haaren, als sie durch die Dunkelheit flog. Dann landete sie, geschmeidig wie eine Katze, und der Ast erzitterte unter ihrem Gewicht. Ein Kinderspiel. Sie kletterte auf einen tieferen Ast und wollte gerade springen, als der schwarze Geländewagen zurückkam. Wieder glitt er mit leise schnurrendem Motor vorbei. Sie sah ihm hinterher, bis er um die Ecke verschwand, dann ließ sie sich auf das nasse Gras fallen.
    Ihr Blick ging zurück zum Haus, und sie rechnete schon damit, dass Bob zur Haustür hinausstürmen und sie anschreien würde: Rein mit dir, junge Dame, aber auf der Stelle! Doch die Außenbeleuchtung ging nicht an.
    Jetzt konnte der Abend beginnen.
    Sie zog den Reißverschluss ihrer Kapuzenjacke hoch und machte sich auf den Weg zum Stadtpark, wo die ganze Action war – wenn man es so nennen konnte. Zu dieser späten Stunde war die Straße ruhig, die meisten Fenster dunkel. Es war ein Viertel mit Lebkuchenhäuschen wie aus dem Bilderbuch, bevölkert von Professoren und Dozenten und glutenfreien, veganen Ehefrauen und Müttern, die alle in Lesegruppen waren. Zehn Quadratmeilen, umgeben von der wirklichen Welt , so lautete Bobs augenzwinkernde Definition der Stadt, doch er und Barbara gehörten tatsächlich hierher.
    Claire wusste nicht, wo sie hingehörte.
    Sie überquerte die Straße mit großen Schritten und kickte mit ihren ausgetretenen Stiefeln das tote Laub vor sich her. Einen Block weiter stand ein Trio von Teenagern, zwei Jungen und ein Mädchen, im Lichtkegel einer Straßenlaterne und rauchte Zigaretten.
    »Hey«, rief sie ihnen zu.
    Der größere Junge winkte. »Hey, Claire-Bear. Ich hab gehört, du hättest wieder Einzelhaft.«
    »Für dreißig Sekunden vielleicht.«
    Sie nahm die brennende Zigarette, die er ihr anbot, machte einen Lungenzug und atmete mit einem zufriedenen Seufzer aus. »Also, was geht ab heute Abend? Was wollen wir machen?«
    »Hab gehört, drüben bei den

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