HERZ HINTER DORNEN
Die Glut im Kamin war erloschen, die Kerzen nur kalte Wachspfützen. Seine Kleider lagen sorgsam gefaltet über einem dreibeinigen Hocker und an der Wand neben dem Fenster stand eine aufgeschlagene Kleidertruhe mit wild durcheinander geworfenem Inhalt. Es sah ganz danach aus, als habe sich jemand hastig und ohne langes Zögern in das nächstbeste Gewand gehüllt.
Die Stundenkerze brannte als einzige noch in einem eisernen Dreifuß und zeigte ihm, dass glücklicherweise noch Zeit blieb, sein eigenes Gemach zu erreichen, ehe das Leben in der Burg wieder seinen täglichen Lauf nahm. Im Nu war er auf den Beinen und hatte seine Kleider übergestreift. Er befestigte den Gürtel mit dem Dolch und strich sich ordnend über die Haare. An der Tür indes zögerte er.
Alles in ihm verlangte danach, Roselynne de Cambremer zu sehen, zu berühren, zu küssen. Aber im grauen, kühlen Morgenlicht kam ihm der ekstatische Rausch der Nacht mit einem Male übertrieben und unglaublich vor. Dass er ausgerechnet in den Armen einer unerfahrenen Jungfrau so viel Befriedigung gefunden hatte, lag sicher an seiner langen Enthaltsamkeit. Hinzu kam, dass es seiner Männlichkeit geschmeichelt hatte, wie sie sich so überwältigt und hemmungslos seinen Forderungen ergeben hatte.
Logik und Vernunft sagten ihm, dass er nichts anderes getan hatte, als ihr bei der Entdeckung der eigenen, allerdings bemerkenswerten Sinnlichkeit behilflich zu sein. Er hoffte für sie, dass sie einen Gemahl finden würde, der diese seltene Gabe zu schätzen wüsste.
Der letzte Gedanke entlockte ihm seltsamerweise einen lästerlichen Fluch, und er stürmte hinaus wie von Dämonen verfolgt. Wo immer Roselynne sich befand, sie hatte es vorgezogen, ihm aus dem Weg zu gehen. Vielleicht schämte sie sich auch für ihr Verhalten.
Es war sicher besser, wenn sie einander aus dem Wege gingen. Zum ersten Mal zog er die Möglichkeit, Winchester zu verlassen, tatsächlich in Betracht. Roselynne hatte mit ihrem Körper dafür bezahlt, und seine innere Stimme sagte ihm, dass es vernünftig wäre, ihr künftig aus dem Weg zu gehen. Sie hatte eine Macht über ihn errungen, die nichts Gutes versprach.
Die Kapelle von Winchester war um die frühe Morgenstunde kaum besucht: ein paar Mönche, die für das Wohl des Königs beteten, Reisende, die noch einen letzten Segen wünschten, bevor sie sich beim Öffnen der Stadttore auf den Weg machen würden, und stille Gestalten, die von ihrer übergroßen Frömmigkeit oder ihrem schlechten Gewissen vor den Altar getrieben worden waren.
Roselynne zählte sich zu Letzteren. Trotz ihrer unendlichen Mattigkeit hatte sie keinen Schlaf gefunden. Von ihren Gedanken und ihren aufgepeitschten Sinnen wach gehalten, hatte sie das Heraufdämmern des Tages beobachtet und den tiefen Atemzügen des normannischen Ritters gelauscht, der an ihrer Seite schlummerte. Niedergestreckt von seiner endgültigen Erschöpfung und mit dem friedlich entspannten Gesicht eines Jungen, den sie noch nie in ihm wahrgenommen hatte.
Aber es war genau jener Friede, der sie selbst um den Schlummer gebracht hatte. Woher nahm er die Sicherheit und das Gottvertrauen, an ihrer Seite den Schlaf eines Kindes zu finden, wenn sie doch seine Freiheit, seine Ehre und sein Leben in den Händen hielt? War er sich ihrer so sicher? Oder war ihm all das so gleichgültig, dass ihn der mögliche Verlust nicht beunruhigte?
Die Unruhe hatte sie aus dem Alkoven getrieben, als die ersten Umrisse im Dunkel zu erkennen gewesen waren. Während er tief und fest geschlafen hatte, hatte sie die zerrissenen Gewänder des Abends in den Tiefen ihrer Kleidertruhe versteckt und sich so leise wie möglich in ein einfach geschnürtes Gewand aus weichem Wolltuch gehüllt, unter dem sie ein schlichtes, warmes Hemd und ein gefüttertes Unterkleid trug, das den morgendlichen Herbstwind abhielt.
Es war ein Kleid, wie es die Frauen und Mägde auf dem Lehen von Hawkstone anlegten, wenn sie sich daran machten, ihr Tagwerk in Haus und Garten zu tun. Festes Tuch, wie es nur am Ufer des Cuckmere gewebt und verarbeitet wurde, weil dort die Schafe jenes dichte Wintervlies trugen, das Wasser und Kälte zugleich abhielt, wenn man es auf bestimmte Weise walkte - eine Methode, die in Hawkstone von Generation zu Generation weiter getragen wurde.
Sie hatte instinktiv versucht, sich damit in die Geborgenheit ihrer verlorenen Kindheit zu hüllen, aber es hatte nicht viel geholfen. Auch wenn sie die schweren Haare zu sittsamen
Weitere Kostenlose Bücher